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Schweig still, mein Kind / Kriminalroman

Schweig still, mein Kind / Kriminalroman

Titel: Schweig still, mein Kind / Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Busch
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hängenden lila Köpfchen blicken? Längst hatte die Spurensicherung das Flutlicht abgebaut und war mit dem schweren Gerät abgefahren. Johannes lag schon auf einem kalten Stahltisch, irgendwo, wo der Tod nichts als reine Routine bedeutete und wo ihn jemand wie ein Stück Vieh aufschneiden würde. Und Bruno, sein kleiner Bruder, war weggesperrt wie ein wildes Tier, der Katastrophe wehrlos ausgeliefert.
    Und er, Hermann, war schuld daran.
    Was passierte, wenn Brandts Beruhigungsspritze nachließ? Wenn Bruno in einer kahlen Zelle wieder klar im Kopf wurde, nach seiner Welt, der Natur und dem Gewächshaus, Ausschau hielt und diese verloren war? Wenn er zu begreifen begann? Würde er durch die Gitterstäbe spähen und versuchen, ein Stück Himmel zu erhaschen? Nach Freiheit schnuppern? Sein typisches Heulen durch die Gänge schicken? Still auf dem Boden kauern? Oder … Hermann durfte den Gedanken nicht weiterdenken.
    Er drückte die Finger gegen seine Schläfen.
    Anhalten, bitte, anhalten!
    Die Uhr tickte erbarmungslos, ihr gleichmäßiges Klicken wurde immer lauter.
    Er hatte versagt. Bruno nicht genügend Schutz gegeben. Es hatte seinen Lauf genommen.
    Das war nicht die Wirklichkeit. Durfte nicht die Wirklichkeit sein! Er konnte an alles glauben. An Gott, an ein Universum, an die Liebe, sogar an den Rabenmann. Aber nicht an das, was jetzt vor ihm lag.
    Die Fenster sahen ihn wie schwarze Spiegel an. Riesige Augen. Vorwurfsvoll. Er öffnete eines. Er brauchte Luft.
    Draußen blies ein eisiger Wind. Die Bäume ächzten, und das Absperrband flatterte leise. Das Gewächshaus wirkte wie ein riesiges Tier, das sich zum Sterben in den Garten gelegt hatte und nun – abgeschirmt von den Blicken der Menschen – auf seinen Tod wartete. Wenn Bruno wiederkommen würde, wäre auch von ihm ein Stück gestorben.
    Der windige Herbst vor bald zwanzig Jahren fiel ihm ein. Die Tage, in denen sie ihren einzigen Urlaub mit der Familie verbracht hatten. Damals hatten seine Großeltern noch gelebt und sich um den Hof gekümmert. Geplant war eine Woche gewesen. Zurückgekehrt waren sie nach drei Tagen. Ostsee. Bruno war heulend durch die Dünen gejagt, hatte mit Sand um sich geworfen, geschrien und immer wieder versucht, seinen eigenen Kopf einzugraben. Nach außen ein Tyrann, innerlich zutiefst verzweifelt. Als sie wieder auf dem Hof angekommen waren, hatte Bruno zwei Wochen lang jeden Winkel abgesucht, hatte jeden Baum betastet, alles beschnüffelt, war rastlos seine Wege abgelaufen wie ein Luchs, der prüfte, ob er auch wieder in seinem Revier war.
    Würde Bruno überhaupt zurückkehren?
    Hermann starrte auf das Gewächshaus. Es bewegte sich.
    Hirngespinste! Er durfte jetzt nicht austicken! Mit einem Ruck schloss er das Fenster und atmete tief durch.
    Alles, woran Brunos Herz hing, war heute Abend dem Erdboden gleichgemacht worden. Das sterbende Tier da draußen, dessen Organe zerstört waren, die Eingeweide zerwühlt.
    Hermann schlug mit der Stirn gegen den Fensterrahmen. Einmal. Zweimal.
    Brunos Gesicht an der Scheibe des Wagens. Es würde ihn verfolgen. Brunos Augen, matt hinter dem spiegelnden Glas, die Miene reglos. Die breite Stirn, hinter der so gewaltige Emotionen stecken mussten, an die Scheibe gelehnt. Johannes’ Leiche. Fleischstücke in der Erde. Was hatte Bruno dieses Mal getan? Was hatte er vorgehabt?
    Dreimal.
    Tränen schossen Hermann in die Augen.
    Nein, jetzt nur nicht weinen. Er heulte doch nicht! Die Tränen quollen einfach so aus seinen Augen. Rein physisch war das, weil die Lider so viel Flüssigkeit nicht halten konnten.
    Er hatte zum Wagen gehen wollen, Bruno Lebewohl sagen. Ihm zeigen, dass er nicht allein war. Er hatte es nicht geschafft.
    Wie gelähmt hatte er zugesehen, wie alles geschah, und sein Herz hatte überall gleichzeitig geschlagen, im Bauch, in der Brust, hinter den Schläfen.
    »Verzeih mir, Bruno«, flüsterte Hermann.
    Erschöpft sank er auf einen Stuhl und ließ seinen Oberkörper auf den Tisch fallen. Das Holz der Platte war glatt und warm. Er strich über die Maserung, als könne er damit seinen Bruder durch die Nacht und über die große Entfernung hinweg beruhigen.
    »Verzeih.«
    Manchmal hatte er gedacht, er könnte für Bruno sterben. Aber das war nur in der Theorie so. Bruno inmitten seiner Blumen, auf dem Feld, mit seinen Büchern im Arm, das machte ihn krank vor Gewissensqualen und Sehnsucht. Der tobende Bruno, der unberechenbare Bruno, beide ließen ihn schaudern.
    Sollte er mit

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