Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
vorsichtig werden lassen. »Aus Norwegen?«, fragte sie stattdessen und deutete mit den Händen eine Flechtbewegung an.
Ehrlinspiel blickte noch immer wortlos herüber. Sie spürte einen Kloß im Hals, schämte sich plötzlich für ihre Neugier. »Ich dachte, wegen des Zopfmusters …?«
Er trat vor das Bett und zog sie hoch. Seine Finger bohrten sich schmerzhaft in ihre Oberarme. Sie stolperte, und für einen Moment glaubte sie, er wolle sie aus dem Zimmer stoßen. Doch er nahm sie in die Arme, leise, fest, und drückte sein Gesicht in ihr Haar. Er roch nach Meer, herb, salzig, und Hanna dachte, dass sie diesen Duft noch lange Zeit mit dem Kommissar verbinden würde.
»Irland«, flüsterte er.
Hanna hätte den Moment gern festgehalten. Einfach so stehen bleiben. Nichts denken. Nichts müssen. Doch das wäre unbekanntes Fahrwasser gewesen. Sie hatte sich noch nicht einmal offiziell von Sven getrennt. Hatte nur die Koffer gepackt und war aus der gemeinsamen Wohnung verschwunden, während ihr untreuer Grafiker – mit dem sie fünf Tage davor die Hochzeitsreise gebucht hatte – bei einem Meeting war. Prospektgestaltung für das Wohnkonzept
Miteinander leben – gemeinsam alt werden
. Im Auto auf der Fahrt nach Süden hatte sie über die Ironie lachen müssen.
Sie spürte, wie Moritz Ehrlinspiels Hand über ihr Haar strich und sein Mund ihre Stirn berührte. Es tat gut. Doch was sollte das alles werden? Sie war nicht die Frau, die nach drei Tagen mit einem Mann ins Bett stieg. Und was erwartete er überhaupt von ihr?
Sie hob den Kopf, wollte etwas sagen, doch ihr Mund traf seinen, und sie küsste ihn, verzweifelt und zugleich wütend auf ihre Inkonsequenz, und in seinen weichen, entschlossenen Lippen erkannte sie die Kraft, mit der er dem Leben begegnete. Ganz anders als Sven. Fremd. Und ohne Aussicht auf eine Zukunft.
Sie machte sich los. »Ich … Mit Ihren Verletzungen sollten Sie eigentlich im Bett liegen.«
»Und den Mörder davonkommen lassen?« Er klang vollkommen sachlich.
Schritte polterten die Treppe herauf. Es waren mehrere Personen.
»Aber Sie –«, Hanna trat einen Schritt von Ehrlinspiel beiseite, gleichzeitig klopfte jemand, und Willi stand mit einem uniformierten Polizisten in der Tür.
In den Händen des Wirts schepperte eine Teetasse auf der Untertasse. »Die soll ich … Brandt hat … Ach, es ist schrecklich«, stieß er hervor.
»Kuhlemann, Hundestaffel«, sagte der Uniformierte. »Wir haben die gesuchte Person gefunden. Der Arzt ist schon dort.«
»Er ist tot«, rang Willi um Worte. »Johannes liegt im Gewächshaus von Bruno. Nackt.«
[home]
19
G leißendes Inferno. Die Nacht greller als der Tag.
Er steht im Schutz der Linde. Starr. Blickt zum Paradies. Neben ihm liegt das Mofa, Benzin sickert in das gefrorene Gras. Daneben die Styroporkiste. Sein Kopf droht zu explodieren.
Er kneift die Augen zu, ganz fest, bis er Schmerz spürt. Presst die dicken Handschuhe gegen den Kopf. Fester.
Fester.
Doch er kann es nicht aussperren.
Sie sind in seinem Paradies! Warum nur?
Warum?
Seit dem Mittag ist er unruhig gewesen. Hat gewartet. Beobachtet. Ist herumgefahren, um den klaren Gedanken, den er auf der Friedhofsmauer gefunden hat, nicht zu verlieren. Überall haben sie spioniert. Männer. Hunde. Er konnte sie hören. Sehen. Riechen. Sie sind umhergelaufen, durch seine Straßen, seine Wälder, haben sein Terrain besetzt. Eindringlinge. Böse Eindringlinge. Er spürt den Zorn in sich. Wie ein Gemisch aus rotem Phosphor und Kaliumchlorat. Explosiv. Ein harter Herzschlag würde ihn sprengen.
Er öffnet die Augen, nur ein ganz klein wenig. Sofort dringt es in ihn. Es ist das Licht, kalt, hart und schneidend, es spaltet seinen Körper, und er spürt die Milliarden Scherben, die sich in jeden Millimeter seiner Schädelhaut bohren. Sein Herz wummert. Schneller. Lauter.
Er muss sich bewegen. Bewegung hilft.
Er trabt los. Bleibt abrupt stehen. Ein Band schneidet seinen Weg ab. Er geht daran entlang, bis zur alten Eiche. Darunter durchzukriechen kommt ihm nicht in den Sinn. Das Licht hat sein Denken absorbiert.
Das Band endet nicht. Spannt sich von der Eiche bis zu den Buchen. Buchen bis Silo. Silo bis Stall. Am Ende sieht er Autos.
Er ist ausgesperrt! Ausgesperrt aus
seinem
Paradies. Darin sind jetzt die Männer. Weiße Männer. Hunde kläffen. Nun erkennt er jedes Detail. Sie graben in seinen Beeten. Sie zerstören seine Kreise!
Seine Kreise!
In seinem Bauch tobt die Wut. Mit einer
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