Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
kümmern. Wie hatte die alte Bertha Weber gesagt? Die Zeit wartet nicht, und manche begreifen nicht, dass sie selber vorwärtsgehen müssen.
Sein Blick streifte ihren Hals.
Der Superbulle mit der Traumkarriere ist ein Feigling, dachte er und sagte: »Ich muss los.« Mit Margarete sprechen. Der Witwe. Der werdenden Mutter. Da bewegte er sich auf sicherem Boden. Sein Job war etwas, bei dem er nur selten ins Schwanken geriet.
Sie nickte. »Und wenn es zwei Mörder sind?«
»Johannes bringt Elisabeth um und wird dann – aus Rache – von einem, der das weiß, selbst erschlagen?« Er spürte ein Kitzeln in der Nase.
»So in etwa. Oder beide Mörder leben noch.«
»Das glaube ich nicht.« Dagegen sprachen die Ähnlichkeiten der Morde. Beide mit einem Stein erschlagen. Die Waffe nicht mitgebracht, sondern am Tatort gefunden und in der Nähe ins Gestrüpp geworfen. Beide bei einer Baumgruppe getötet. Beide hatten sich nicht gewehrt, nicht mit Gefahr gerechnet und den Mörder demnach gekannt.
Ehrlinspiel vermutete einen einzigen Täter. Einen, der spontan gehandelt und unter hoher emotionaler Anspannung gestanden hatte. Nächstbestes Tatwerkzeug ergriffen, Wut auf das Opfer sofort rausgelassen, zugeschlagen, geflüchtet. Keine gezielte Vorbereitung, keine Anstrengungen, die Tat zu vertuschen.
Unter diesem Aspekt schied Johannes als Mörder Elisabeths aus. Ehrlinspiel hatte dessen Verhalten falsch gedeutet. Es war Zeit, die Fakten in einem anderen Licht zu betrachten. Und vor allem zu verhindern, dass weitere Morde geschahen. Wenn Elisabeth und Johannes tatsächlich ein Geheimnis geteilt hatten, so konnte dieses auch noch ein anderer kennen. Und der schwebte dann ebenso in Lebensgefahr. Wer zwei Menschen getötet hatte, setzte die Hemmschwelle für eine dritte Bluttat automatisch tiefer.
»Wo ist Bruno jetzt?«, fragte Hanna.
»In Freiburg. Ich fahre später wieder in die Polizeidirektion zur Vernehmung.« Er machte eine Pause. »Und um die Anzeige gegen Sinas Vater muss ich mich auch noch kümmern. Körperverletzung zum Nachteil eines Ermittlungsbeamten und Verdacht auf Vollrausch – um es im Polizeijargon zu sagen. Das bleibt, selbst wenn ich es wollte, nicht ungestraft.« Ehrlinspiel ärgerte sich, dass ein Betrunkener ihn so hatte überrumpeln können.
»Der arme Kerl.«
»Anton?« Das Kitzeln in der Nase wurde stärker.
»Bruno. Und Anton auch. Irgendwie tragisch, die beiden. Einsame Wölfe in einer lieblosen Welt.«
»Und jeder heult auf seine Art.« Er nieste.
»Kann man Bruno überhaupt festnehmen? Er ist doch behindert.«
»Doktor Brandt hat seine Haftfähigkeit bescheinigt.«
»Aber das ist verrückt! Man kann nicht einmal reden mit ihm.«
Ehrlinspiel hob die Hände. Über Brandts medizinische Kompetenz mochte er nicht urteilen.
»Was passiert jetzt mit ihm?«
»Je nachdem, was die Vernehmung ergibt.« Er streckte sich und wollte gerade zur Tür gehen, als Hanna ihn am Arm festhielt.
»Es passt jetzt vielleicht nicht. Aber sehen Sie einmal da.« Sie deutete mit dem Kopf zur Wand.
Er folgte ihrem Blick. Dort hingen eine der hölzernen Heugabeln und die Schwarzweißfotos mit den Faschingsmotiven. Er hatte sie bisher nur nebenbei betrachtet, ihnen keine weitere Beachtung geschenkt. Doch jetzt erkannte er es auch: Die Narren waren keine Narren. Sie waren große schwarze Vögel. Die Menschen trugen Federkostüme und Masken mit Schnäbeln.
»Raben«, murmelte er.
»Oder viele Rabenmänner.« Sie wandte sich Richtung Küche. »Willi?«, rief sie laut.
»Ich muss wirklich los.« Ein allzu bekanntes Gefühl beschlich ihn. »Ich muss einen Mörder finden, und der ist sicher nicht der Rabenmann.«
Und ich habe keine Lust zuzusehen, dachte er, wie Brock Willi schöne Augen macht, um seinen Plaudereien auf die Sprünge zu helfen.
Doch der Wirt war bereits hinter den Tresen geeilt.
»Was sind das für Fotos?«, fragte Hanna Brock ihn mit einer einladenden Geste. Ihre Koketterie blieb jedoch aus.
Ehrlinspiel war erleichtert.
Willi krauste die Stirn. »Glauben Sie bloß diesen Blödsinn nicht. Dumme Geschichten.«
»Der Rabenmann?« Die Redakteurin strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr.
Willi winkte ab. »Mir können Sie mit so einem Gespenstermumpitz erst kommen, wenn ich fünf Bier intus habe. Aber solange der Bürgermeister mitmacht, zieht auch das Dorf mit.«
»Mitziehen? Meinen Sie das jetzt im übertragenen Sinne oder im Sinne von Faschingsumzug?«
Willi verschwand in der Küche.
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