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Schweig still, mein Kind / Kriminalroman

Schweig still, mein Kind / Kriminalroman

Titel: Schweig still, mein Kind / Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Busch
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entstellt, mit leeren Augenhöhlen? Seine Frau Margarete, deren Mund immer größer geworden war, ihn unbarmherzig einzusaugen und zu zermalmen gedroht hatte? Lachende Menschen am Feuer, zu denen er gerne gekrochen wäre?
    Ehrlinspiel stellte sich vor, wie Johannes Beyer sich Befehle erteilt hatte. Steh auf! Lauf los! Doch sein Körper gehorcht nicht. Panik ergreift ihn. Er realisiert, dass er sterben wird. Aber er will nicht sterben. Er versucht zu schreien. Verflucht die entsetzliche Kälte. Verdammt Gott. Und endlich lassen die Schmerzen nach. Die Angst verfliegt. Aber nicht, weil Gott geholfen hat. Sondern weil sein Herzschlag sich verlangsamt, der Puls sinkt, sein Bewusstsein schwindet.
    Müde entspannt er sich, spürt jetzt Wärme. Nur ein bisschen ausruhen, denkt er. Dann ist alles gut. Er setzt sich auf. Freut sich, dass er bald zu Hause sein wird. Und über die Hitze, die ihn jetzt durchströmt. Immer intensiver, so sehr, dass er schwitzt. Es ist Sommer, das Licht flimmert hell, und die Landschaft ist überzogen mit feinen Spinnweben aus purer Seide.
    Der Anorak fliegt ins Gras. Beyer lacht. Wie konnte er nur so dumm sein, sich so dick anzuziehen? Doch es ist immer noch zu heiß. Er zieht die Stiefel aus. Legt Pullover und Cordhose ab. Schließlich die Unterwäsche. Aber das nimmt er schon nicht mehr richtig wahr. Er krabbelt einer Spinne hinterher. Sie zeigt ihm ihr Netz. Es ist ins Gestrüpp gebaut. Dahinter wartet Elisabeth. Er kriecht hinein, die kaputte Brille fällt zu Boden, und die Fäden der Spinne streicheln sanft sein Gesicht. Gleich ist er zu Hause. Bei Elisabeth. Gleich. Geliebte Elisabeth. Er fühlt sie schon, streckt die Hände aus, wird von Glück durchströmt. Sie lächelt. In ihren Armen schläft er ein.
    Ehrlinspiel zwang sich in die Wirklichkeit zurück. Sofort wurde er sich des Hustenreizes und quälenden Drucks hinter seiner Stirn bewusst.
    Das Einschlafen war noch immer nicht Johannes’ Tod gewesen. Aber den Rest hatte er kaum mehr bewusst erlebt. Nicht gemerkt, wie seine Atmung sich extrem verlangsamt und immer wieder ausgesetzt hatte bis zum Herzkammerflimmern, wie die Muskeln erstarrt und die Vitalfunktionen zum Erliegen gekommen waren.
    Welche Qualen der junge Mann wirklich durchlebt hatte, würde niemand je erfahren. Sicher war aber, dass er sich aus einem paradoxen Wärmegefühl heraus seine Kleidung vom Leib gerissen hatte. »Die Rechtsmedizin nennt das ›Kälte-Idiotie‹«, hatte Reinhard Larsson erklärt. »Sie ist typisch für den Kältetod.« Sicher war auch, dass Johannes’ Sterben sich über schätzungsweise zwölf qualvolle Stunden erstreckt hatte. Und dass er in den ersten hätte gerettet werden können. Doch kein Spaziergänger, Bauer oder Jäger war an dem einsamen Waldrand vorbeigekommen, an dem seine zerstreute Kleidung gefunden worden war. Die Brille hatte im Gestrüpp gelegen. Nur die durchlöcherten Strümpfe hatte er noch getragen.
    Das alles erzählte der Hauptkommissar Hanna nicht. Auch nicht, dass der Todeszeitpunkt zwischen einundzwanzig Uhr und Mitternacht lag, die Tatzeit also zwischen neun und zwölf Uhr vormittags. Margarete hatte ihren Mann um zehn das Haus verlassen sehen. Seinem Mörder war er demnach zwischen zehn und zwölf begegnet. Und nachts, nachdem das Opfer erfroren war, hatte es jemand ins Gewächshaus gebracht. Gegen Viertel vor eins in der Nacht war Ehrlinspiel noch mit den Bauern auf der Suche nach Johannes gewesen, hatte auch im Gewächshaus nach ihm gesucht. Früh um sechs war die Hundestaffel eingetroffen. Niemand hätte da mehr unbemerkt eine Leiche ins Dorf schleppen können. Folglich war es innerhalb der fünf Stunden passiert, in denen alle geschlafen hatten – bis auf einen.
    »War es Bruno?« Hanna sah ihn an.
    »Sagen Sie’s mir.« Er rührte in seinem Kräutertee und verdrängte die Kopf- und Gliederschmerzen.
    »Und wenn Bruno … Ich meine«, sie stellte die Tasse ab, und Kaffee schwappte heraus, »ich war im Gewächshaus am Samstagvormittag. Als Sie dazukamen. Wenn die Leiche da schon hinten drinlag, versteckt zwischen den Kübeln und Pflanzen … dann habe ich mit einem Mörder gesprochen und –«
    »Nein, nein.« Er hätte gern einen Arm um ihre Schultern gelegt, doch er wagte es nicht. Sie hatte sich ihm entwunden gestern Abend. Und das mit Bestimmtheit.
    »Er wurde nicht im Gewächshaus getötet.« Dafür waren Fleischklumpen im Beet gewesen. Das Fleisch von … einem Tier? Ehrlinspiel vermutete anderes.

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