Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
indirekt befragte, ohne dabei Informationen preiszugeben. Kaum jemand thematisierte dies je. Bertha Weber war auf ihre Art doch noch recht beweglich im Denken.
»Bruno steht unter Mordverdacht.«
Berthas Auge schnellte zu ihm. »Er hat nichts getan. Bruno ist ein feiner Kerl.«
»Sie waren noch nicht im Dorf heute?«, wiederholte er seine Frage.
Sie schüttelte den Kopf, und Ehrlinspiel sah ihre Kopfhaut durch das dünne weiße Haar schimmern.
»Es gibt einen zweiten Toten.«
Bertha gluckste. »Die Zeit wartet nicht auf uns.«
Er revidierte das klare Denken sofort wieder. Sie war verrückt. Zwar mit Lichtblicken gesegnet. Doch als Zeugin kaum hilfreich.
»Ihr Nachbar ist tot, Frau Weber. Johannes Beyer.«
Der Teekessel pfiff und stieß Wasserdampf aus.
Mühselig erhob Bertha sich. »Hat er sich aufgeknüpft?«
Ehrlinspiel sprang auf und drückte die Alte vorsichtig auf den Stuhl zurück. »Ich mache das schon.«
»Er hält’s nicht aus bei der Margarete.«
»Das sagten Sie schon einmal.« Er nahm den Kessel vom Herd. »Nein, er wurde ermordet. Wo sind die Tassen?«
»Über Ihnen. Der Salbeitee steht links. Der bringt Sie wieder auf die Beine, junger Mann.«
Ehrlinspiel brühte zwei Tassen Tee auf.
»Vergessen Sie den Honig nicht. In dem roten Schrank.«
Er träufelte zähen, dunklen Waldhonig in die dampfende Flüssigkeit und zog eine Schublade auf, um Teelöffel zu suchen.
Kurz hielt er inne, starrte auf das wild zusammengewürfelte Besteck und fragte dann wie nebenbei: »Haben Sie ein Fotoalbum von früher?«
»Gewiss.«
»Dürfte ich das einmal sehen? Sie könnten mir beim Tee von Ihren Erinnerungen erzählen.«
»Gewiss.« Schwerfällig stemmte sie sich hoch und schlurfte zur Tür.
Rasch griff er in die Schublade und verstaute seinen Fund in einer der kleinen Plastiktüten, die er stets dabeihatte. Anschließend trug er die Tassen zum Tisch und wartete, bis die Alte mit einer großen alten Blechdose unter dem Arm wieder zurückkam.
Sie öffnete den Deckel und schüttete den Inhalt auf den Tisch. Fotos, angelaufene Manschettenknöpfe, ein goldener Ring, ein Stein, so glatt, als sei er über Jahrtausende durch Menschenhände gewandert, zwei Zimmermannsnägel, ein abgegriffenes Gedichtbuch, Briefe.
»Da haben Sie aber einen schönen Schatz«, sagte Ehrlinspiel und überlegte, wie er um das Fotoanschauen und die ausschweifenden Erzählungen herumkam. Er hatte, was er wollte.
»Gewiss.« Sie kicherte wie ein Mädchen, das dem Schulkameraden eine Tüte Bonbons stibitzt hat. »Momentaufnahmen des Lebens.«
»Frau Weber, was war am Mittwochabend?«, wechselte der Hauptkommissar das Thema.
»Bruno ist ein exzellenter Koch«, krächzte sie.
»Hähnchen und Bratkartoffeln, ich weiß.«
»Er ist ein feiner Kerl. Macht auch immer das Geschirr sauber.« Sie sah in die Ferne. »Früher hat Egon das gemacht. Bruno ist nicht so geschickt mit dem Geschirr, und ich bin aufgewacht, als wieder ein Teller zerbrochen ist, aber er –«
»Aufgewacht?«
Hastig zog sie die Fotos weg und legte die Hände darauf.
Hab ich dich, freute sich Ehrlinspiel.
»Ich bin kurz eingenickt«, gestand sie leise.
»Kurz?«
»Ein Stündchen?«
»Wann sind Sie eingeschlafen?«
Hilflos richtete sie ihr Auge auf ihn. »Das weiß ich nicht so genau. Um fünfzehn Minuten nach Mitternacht bin ich aufgewacht, das weiß ich, denn da hat gerade das Nachtmagazin angefangen. Das ist immer so laut mit dem Gong und der Musik. Der Bruno, der hatte auch Blumen gebracht, die standen genau vor dem Bild, als der Sprecher losgelegt hat.« Sie gluckste wieder. »Der stellt sie immer dahin. Damit ich sie auch sehe. Er holt sie in der Rabenschlucht. Seiner Schwester hat er bestimmt nichts getan.«
Sagst
du,
dachte Ehrlinspiel. Bruno hätte genügend Zeit gehabt, in die Schlucht zu gehen, Elisabeth zu erschlagen, das Baby zu stehlen, zu verstecken und zurückzukommen.
»Was macht Sie da so sicher?«
Sie beugte sich zu ihm vor, und ihr Geruch schien Ehrlinspiel noch intensiver zu werden. »Weil der Rabenmann das Unglück bringt. Nicht Bruno.«
»Also jetzt mal der Reihe nach. Bruno war mittwochnachts in der Schlucht und hat dort Blumen geholt.« Er sah die Alte an und fügte nachdrücklich hinzu: »Im November.«
»Sicher.«
»Ist das nicht etwas zu kalt für Blumen?«
Bertha drehte sich langsam auf dem Stuhl herum, so dass sie die Wand mit den Fotos im Blick hatte. »Hörst du das, Egon?« Zu Ehrlinspiel gewandt, erklärte sie:
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