Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
Anblick.« Er trank seinen Tee aus.
»Er liegt hinter dem Friedhof. Sie haben ihn abgeschnitten und vergraben.«
»Und er heißt Rabenmann, weil die schwarzen Biester den Kadaver nicht gefressen haben«, folgerte Ehrlinspiel.
»Sicher. Und deshalb heißt die Schlucht auch Rabenschlucht.« Bertha schob ihm die Fotos wieder hin. »Hier.«
Es waren die gleichen Bilder wie in der
Heugabel
.
»Die Dorfbewohner in Kostümen«, stellte er fest und dachte an Bruno. Je länger der warten musste, desto schwieriger würde er zu vernehmen sein. Bei Bruno konnte der Kriminalhauptkommissar nicht davon ausgehen, dass die Zelle ihn mürbe und gesprächig machen würde. Eher würde er in ein Schneckenhaus mit Tausenden unzugänglichen Windungen kriechen – oder toben.
»Wir müssen alle Buße tun.«
»Und dazu verkleiden Sie sich?«
»Gewiss. Wenn es schneit, ziehen wir in die Schlucht. Der Dorfoberste führt uns. Und dort büßen wir für unsere Vorfahren.«
»Aha. Und hilft das?« Er dachte an gestern Morgen, die Menschen vor der Kirche, an die Wortfetzen, die Hanna Brock und er nach Johannes’ Verschwinden aufgeschnappt hatten.
Rabenmann geholt
…
war mit der Sina schon so. Es wird nie aufhören
…
Wer Sünde begeht …
»Manchmal.«
»Manchmal? Also hat er schon Opfer geholt?«
»Sicher. Wenn Sie die Leute fragen.« Ganz dicht beugte sie sich zu ihm. »Felix. Der sagt Ihnen doch sicher etwas, nicht wahr?« Sie blitzte ihn wissend mit ihrem gesunden Auge an.
»Und Sie machen das mit? Sie stammen doch gar nicht von hier, sagten Sie. Sie wissen, dass ein Geist keine Babys holt.«
»Ich bin ein Fossil.«
»Aus der Stadt.«
»Hier gibt’s Traditionen. Sie verbinden die Menschen.«
»Aber die hier schafft auch Angst.« Er sah sie herausfordernd an. »Und Dämonen, nicht wahr?«
»Nur wenn man daran glaubt.« Ihr Auge blickte verschmitzt.
»Hedwig Vogel ist nicht an Dämonen gestorben. Sinas Mutter hat sich das Leben genommen. Erhängt. Warum?«
»Ich bin ein Fossil.« Sie nickte mehrmals mit dem Kopf.
»Wann ist das passiert? War das … auch in einer Nacht, in der es zum ersten Mal schneite?« Blödsinn, dachte er.
»Es war eine laue Mainacht, der Duft der Kirschblüten hatte die ganze Luft erfüllt.« Sie sah ihn an. »Sie sind unruhig. Jetzt hauen Sie schon ab.«
»Die Zeit wartet nicht auf mich.« Er stand auf. »Danke für den Tee!«
»Grüßen Sie die Dame.«
»Und Sie Egon.«
Er hob die Hand und lief durch die halb gefrorenen Pfützen zu seinem Wagen.
Die Nebelfelder lagen wie ein Schleier über den Bergrücken. Nur schwach hoben sich die Silhouetten vom Graugrün des Himmels ab, berührten in einer unendlichen Ferne die Horizontlinie. Träger Wind schaukelte ein paar einzelne Tannen auf den Bergkuppen.
Konzentriert lenkte der Hauptkommissar das schwere Fahrzeug über die kurvigen Straßen, vorbei an den Einhäusern. Sie verbanden das Leben von Menschen und Tieren, auch das Erntegut lagerte unter demselben Dach, und er träumte davon, mit lieben Menschen in einem solchen Haus mit tiefgezogenen Giebeln und großen Holzbalkonen alt zu werden. Ähnlich, wie seine Eltern und deren vier Freunde es in ihrer Alten- WG praktizierten. Wohnbereich mit Kachelofen, großer Holztisch für alle, Wiesen, ein Blütenmeer und Obstbäume. Und natürlich Katzen.
Heute beschlichen Ehrlinspiel Zweifel. Die letzten Tage hatten ihm das Landleben nicht unbedingt attraktiver erscheinen lassen.
Auf der nächsten Höhe bog er rechts ab, passierte Windräder, ließ einen Wald links liegen. Wie Leiber erstreckten sich neue Hügel ins Tal.
Landschaft ist wie Leben, dachte er. Mal sonnig, einladend, mal furchteinflößend. Oft unentschieden. Manchmal gaukelt sie Tiefe vor. Nur wenige Meter weiter erkennt man den Irrtum, und vor einem liegt nichts als flaches Land. Alles eine Frage des eigenen Standpunktes.
Er bremste, die Straße schlängelte sich in Serpentinen hinab.
Heute wäre ein Tag, um die rauhe Landschaft in einem diffusen Licht zu fotografieren. Doch seine Nikon lag zu Hause, und freilich blieb jetzt keine Zeit dazu. Obwohl er Lust verspürte, einmal wieder an dem heimischen Ecktisch zu sitzen, Folkrhythmen im Hintergrund, und eine Nacht im Retuschieren von Bildern zu versinken. Entspannen. Verrückten Träumen freien Lauf lassen.
Bilder, dachte er. Da kann ich Störendes einfach tilgen, Hell und Dunkel ausbalancieren, Linien schärfen, Gesichter weichzeichnen. Ein Ganzes schaffen, dessen Teile
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