Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
»Manche Blumen blühen auch im Winter, Herr Stadtpolizist. Bruno weiß, wie das geht.«
»Aha.« Langsam hatte er genug von dem wirren Gerede. Er sollte sich besser wieder auf den Weg nach Freiburg machen. Bruno saß im Zellentrakt der Polizeidirektion, im Keller, in einem weiß gekachelten Raum, nichts außer einer Holzplatte zum Liegen und einer WC -Schüssel aus Edelstahl um sich. Hoffentlich würde er nicht durchdrehen. Zehn Minuten nach Mitternacht hatte er Bruno den Grund seiner vorläufigen Festnahme erklärt und ihn mit nach Freiburg genommen. So konnte er ihn bis morgen um Mitternacht festhalten. Oder er musste über die Staatsanwaltschaft beim Haftrichter einen Haftbefehl erwirken. Dann säße die Vogelscheuche erst einmal in Untersuchungshaft.
In seinem Innern regte sich erneut Widerspruch. Bruno ein Mörder – Ehrlinspiel wollte das trotz aller Indizien nicht.
Bertha nickte. »Der Rabenmann tut ihm nichts. Bruno hat keine Angst vor ihm. Obwohl er nie mitgeht, wenn die anderen losziehen.«
Da war es wieder. Das Bild von den Dorfbewohnern in den Kostümen. »Solange der Bürgermeister mitmacht, zieht auch das Dorf mit«, hatte Willi gesagt und dann nicht weiterreden wollen.
»Wo ziehen sie denn hin, die anderen? Und warum?«
»Der Rabenmann ist ein Geist, Herr Stadtpolizist.« Sie redete jetzt leise, fast verschwörerisch. »Er lebt in der Schlucht, und wir müssen ihn beschwichtigen. Jedes Jahr.«
»Warum?«
»Er war Kaufmann, nicht wahr, Egon?« Sie nickte versonnen. »Auf einer Reise hat er hier übernachtet. Er wollte in die Schweiz. Bei den Vorfahren der Vogels, zwei Brüdern, hat er sich einquartiert, in einer Scheune. Drei schwarze Pferde hatte der und einen prächtigen Kutschwagen. Es war eisig kalt, und die Tiere waren müde. Er hat den Vogelbrüdern zehn Silbermünzen gegeben. Das war viel Geld.« Bertha Weber verstummte.
»Er kam ums Leben, unschuldig, nicht wahr?«, versuchte Ehrlinspiel sie zum Weiterreden zu bewegen.
»Gewiss.«
»Wie kam es dazu?«
»Am nächsten Morgen lag der Heinrich aus der Vogelsippe in seiner Stube, mit gebrochenem Genick. Verdreht war er, und die Knochen sind ihm überall herausgestanden. Und sein Geldsäckel war leer. Kein einziger Silberling war mehr da.«
»Und die Dorfgemeinschaft hat den Täter schnell gefunden.« Ehrlinspiel hatte schon viele solcher Schauergeschichten gehört.
»Gewiss. Der Kaufmann hatte die Taschen voller Geld. Und er war ein Fremder. Also haben sie ihn verurteilt und mit Stricken zusammengebunden. So lag er dann in der Scheune. Im nächsten Morgengrauen sind die Männer zur Schlucht gezogen und haben ihn aufgeknüpft.«
»Selbstjustiz.«
»Papperlapapp. Das war Gesetz des Dorfes. Und jetzt trinken Sie Ihren Tee!«
Er nahm einen Schluck. Stark und angenehm süß rann die Flüssigkeit seine Kehle hinunter. »Was geschah dann?« Über Recht und Unrecht wollte er mit der Alten nicht diskutieren. Und was von der Geschichte wahr war und was nicht, stand sowieso in den Sternen.
»Während sie in die Schlucht gezogen sind, hat es angefangen zu schneien. Es war der erste Schnee in diesem Winter. Der Kaufmann hat Rache geschworen, als sie ihm die Schlinge um den Hals gelegt haben. Er stand da, auf dem Holzklotz, und hat beteuert, dass er unschuldig ist. Aber es hat nichts genutzt. Sie haben die Schlinge langsam zugezogen. Da hat er das Dorf verflucht. Jedes Jahr, hat er mit fester Stimme gerufen, wird er sich ein Opfer holen. Genau dann, wenn es anfängt zu schneien. Das Echo hat seinen Schwur durch den Wald getragen, und genau da hat es einen Ruck gegeben und geknackt, und er baumelte am Galgen.«
Es wird bald schneien. Ich spür’s. Die Leute werden nervös.
Jetzt verstand Ehrlinspiel, was Bertha am Samstagvormittag auf dem Friedhof gemeint hatte. Andererseits … Konnte es tatsächlich sein, dass moderne Menschen Angst hatten, von einem Geist geholt zu werden?
»Interessant. Und wie hat das Dorf gemerkt, dass es den Falschen hingerichtet hatte? Denn das erzählen sich die Leute doch.«
Bertha kicherte. »Die Raben!«
Der Hauptkommissar trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte. »Was war mit denen?«
»Sie haben ihn nicht angerührt. Tagelang hing er da oben. Die Zunge quoll violett aus dem Hals, und er blähte sich auf. Aber die Vögel sind nur auf den Bäumen gehockt und ab und zu auf den Balken geflattert. Sie haben ihm die Augen nicht ausgefressen, noch nicht einmal an ihm gepickt.«
»Was ein schöner
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