Schweig still, mein totes Herz (German Edition)
nächsten Schuss vor. In dem Moment, als er den Ellbogen zurücknahm, fragte sie: »Wo ist Ihre Kutte?«
Er reagierte nicht gleich, vermasselte aber den eigentlich sehr einfachen Schuss. »Wie bitte?«
»Sie gehören zu den Reapern. Sollten Sie die hier drin also nicht tragen?«
Er richtete sich auf, den Stock in der Hand, und starrte sie an. Als könne er nicht fassen, dass sie so unverfroren war, ihn ausgerechnet hier herauszufordern.
Sie berührte den Anstecker, und der aufgenähte silberne Sensemann glitzerte im grellen Deckenlicht. »Könnte es sein, dass Sie sie nicht tragen, weil Sie das hier verloren haben?«
»Die Kleine hat recht.« Ein älterer Mann mit grauem Haar und toten dunklen Augen trat vor. »Mickey«, sagte er, ohne denjenigen anzusehen, »hol Goose seine Kutte.«
Seine eigene Lederweste wies ihn als vollwertigen Reaper und Präsidenten der Carolina Mountain Men aus. »Ich bin Poppy«, sagte er freundlich, reichte ihr aber nicht die Hand. »Sieht so aus, als sollte ich Sie kennen. Kenn Sie aber nicht.«
Immer mehr Reaper bauten sich vor ihr auf; der Fluchtweg war trotzdem noch frei, nur ein junger Kerl, vielleicht Anfang Zwanzig, stand im Weg, aber mit dem würde sie notfalls fertigwerden. Caitlyn verschaffte sich noch etwas mehr Spielraum, indem sie sich über den Tisch beugte und mit ihrem Queue weit ausholte.
»Ich bin Caitlyn«, sagte sie, nachdem sie den Stoß ausgeführt hatte. »Caitlyn Tierney.«
»Nett, Sie kennenzulernen, Caitlyn. Würden Sie mir verraten, was Sie hierherführt?«
Mit einem Mal konzentrierte sich alles auf sie und Poppy. Goose war vom Tisch zurückgewichen und rieb die Lederspitze seines Queues mit Kreide ein, als hinge sein Leben davon ab.
Caitlyn ließ den nächsten Spielzug unbeendet, richtete sich auf und blickte Poppy direkt in die Augen. Sie lehnte den Queue gegen den Tisch und fasste in ihre Tasche. Der junge Reaper hinter ihr zuckte zusammen, wie sie belustigt registrierte. Er dachte wohl, sie würde eine Waffe ziehen, was sie bei so vielen Menschen um sie herum aber nur im äußersten Notfall tun würde.
Sie hielt Poppy Lenas Foto unter die Nase. »Ich suche dieses Mädchen. Sie soll vor zwei Nächten hier vorbeigekommen sein.«
Poppy schaute sich das Foto nicht einmal an, sondern schnalzte es ihr über den Tisch zurück. Caitlyn steckte es wieder in ein.
»Da sind Sie hier falsch. Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist, jemand wie die würde hier auffallen. Genau wie dieser Gentleman hier.«
Die Menge hinter ihm teilte sich und gab den Blick auf zwei Männer frei, die jemanden nach vorne zerrten. Einer der beiden hielt diesem Mann eine Pistole an die Schläfe.
Paul.
17
Lena und Smokey rannten in die Dunkelheit hinaus. Sie bereute schon bald, dass sie den Schlafsack zurückgelassen hatte, aber er war unter dem herabgefallenen Putz begraben gewesen, und sie hatte nicht die Zeit gehabt, ihn auszugraben. Sie hatte sich als Schutz vor der Kälte nur schnell etwas altes Zeitungspapier in die Socken gestopft. Der eisige Wind, der den Gipfel hinabfuhr, zerrte an ihr, der Mantel bot kaum Schutz. Und ihre Handschuhe hatte sie irgendwo verloren.
Sie stemmte sich gegen den Wind, schlang die Arme um die Brust und versuchte, so viel Körperwärme wie möglich zu bewahren, während sie über den holprigen Boden stolperte. Sie kamen zu einer weiteren Hütte. Einstöckig, mit billiger Holzverkleidung, ganz wie die, in der sie gefangengehalten worden war. Waren sie vielleicht im Kreis gelaufen? Nein, der Wind hatte ihr die ganze Zeit über ins Gesicht geschlagen und besonders weit waren sie auch noch nicht gekommen.
Smokey ließ ihre Hand los und lief einmal ums Haus herum. Lena folgte ihr vorsichtig. Licht drang keines nach draußen, dafür seltsame Geräusche. Als ob jemand am Holz kratzte oder nagte. Ihr kam eine Lagerfeuergeschichte von früher in den Sinn: über einen Mann, der seinen Haken wetzte, ehe er Amok lief und wahllos mordete.
Lenas Magen machte sich bemerkbar, sie hätte jedoch nicht sagen können, ob ihr vor Angst schlecht war oder ob sie einfach Hunger hatte. In der Hütte hatte sie sich nie hungrig gefühlt, eine Nachwirkung des Betäubungsmittels, und wohl auch, weil sie zu verängstigt gewesen war, um an Essen zu denken. Aber jetzt, hier draußen, in der Kälte umherirrend … klapperte sie mit den Zähnen und zitterte so stark, dass sie beinahe über die eigenen Füße gestolpert wäre.
Sie blickte zurück. Am Rande ihres Sichtfeldes
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