Schweig um dein Leben
nachzuverfolgen ist, trotzdem dürfen Sie keinerlei Risiko eingehen. Haben Sie in Virginia noch Angehörige?«
»Meine Mutter.« Moms Stimme klang bitter. »Max hat ihr angeboten, mit uns zu kommen, aber sie hat abgelehnt. Ich muss zugeben, dass mich das sehr verletzt hat, aber überrascht hat es mich nicht. Ich bin nie die Tochter gewesen, die Lorelei sich gewünscht hat.«
»Sie hat dir bis heute nicht verziehen, dass du einen Mann wie mich geheiratet hast«, sagte Dad. »Deine Eltern wollten immer, dass du einen Akademiker heiratest, jemanden, der finanziell und gesellschaftlich auf einer Stufe mit dir steht.«
»Das war es nicht allein«, winkte Mom ab. »Mir ist es nie wirklich gelungen, Loreleis Erwartungen gerecht zu werden, und irgendwann wollte ich das auch gar nicht mehr. Sie hat es mir immer übel genommen, dass ich so aus der Art geschlagen bin und mir gesellschaftliches Ansehen im Gegensatz zu ihr völlig egal war.«
»In Ihrer jetzigen Situation ist das allerdings ein wahrer Segen«, sagte Tom. »Ein reges soziales Leben wäre im Moment absolut fatal für Sie. Wählen Sie Ihre Bekanntschaften sorgfältig und vermeiden Sie zu enge Kontakte. Und ich empfehle Ihnen, vorläufig den Namen des vorherigen Hausbesitzers auf dem Briefkasten stehen zu lassen. Besorgen Sie sich einen Festnetzanschluss, über den Sie mich im Notfall über meine Geheimnummer erreichen können – aber wirklich nur im Notfall –, und benutzen Sie bis auf Weiteres keine Handys.«
Bevor er ging, reichte er Dad einen Umschlag mit Geld. Außerdem übergab er ihm die Schlüssel für seinen neuen Laden, ein Fotogeschäft auf der Main Street namens »Zip-Pic«.
Nachmittags machten wir eine große Shoppingtour bei J. C. Penney. Meine Eltern versuchten, es mit Humor anzugehen, und während wir uns von einer Abteilung in die nächste arbeiteten und uns von Besteck bis Bettwäsche mit allem eindeckten, woran es uns fehlte, sagte Mom immer wieder: »Das ist fast ein bisschen, wie frisch verheiratet zu sein.« Ich konnte Dad sogar dazu überreden, mir einen Tennisschläger zu kaufen, da mein alter in meinem Schließfach in der Mädchenumkleidekabine der Springside Academy zurückgeblieben war. Anschließend gingen wir in den Supermarkt und füllten unsere Lebensmittelvorräte auf. Die Frau an der Kasse fragte meine Mutter, ob wir neu in der Stadt wären. Mom antwortete, dass wir gerade erst von North Carolina hierhergezogen wären, und erkundigte sich nach einem wirksamen Mittel gegen Kakerlaken.
Als wir alles erledigt hatten, fuhren Mom und Dad nach Hause, um die Einkäufe auszupacken, und Jason und ich schlenderten noch ein bisschen die Hauptstraße entlang und sahen uns die Auslagen in den Schaufenstern an. Die »neue« Sommerkollektion, die in den Läden angepriesen wurde, stammte aus der letzten Saison, und in der Nachmittagsvorstellung im Kino liefen bloß alte Disneyfilme.
Jason wollte sie sich unbedingt anschauen und ließ nicht locker, bis ich schließlich seufzend nachgab und uns zwei Karten kaufte. Ich bereute es nicht – die Zeit hatte den Zeichentrickfilmen nichts von ihrer Magie rauben können, und Jason war davon genauso fasziniert, wie ich es in seinem Alter gewesen war. Auf dem ganzen Nachhauseweg redete er von nichts anderem als davon, sie auf DVD zu kaufen.
Am nächsten Tag fuhren wir nach Sarasota, wo Jason braune Kontaktlinsen bekam und Mom und Dad ihre Fahrprüfung machten. Meine machte ich nachmittags in Grove City und erhielt daraufhin einen Führerschein, der auf den Namen Valerie Weber ausgestellt war.
Auch wenn man diese ersten beiden Tage in Florida nicht wirklich ereignisreich nennen konnte, waren sie trotzdem so etwas wie das Highlight des Monats für uns. Denn danach kroch unser Leben mit einer Eintönigkeit dahin, dass im Vergleich dazu sogar der Aufenthalt im Mayflower der reinste Abenteuerurlaub gewesen war. Ich stand jeden Morgen früh auf, um mit Larry Tennis zu spielen, aber den Rest des Tages vegetierte ich mehr oder weniger vor mich hin. Larry musste um neun bei seinem Ferienjob sein und Kim wurde von ihrer großen Familie mit Beschlag belegt. Mom verbrachte ihre Tage mit Schreiben, während Dad sich mit seinem Fotogeschäft vertraut machte und sich selbst beibrachte, wie man Filme entwickelte. Jason hatte sich mit zwei kleinen Jungs angefreundet, die am anderen Ende der Straße wohnten, und obwohl er immer noch viel von Chris sprach und ihn vermisste, verbrachten die drei jede freie Minute
Weitere Kostenlose Bücher