Schweig um dein Leben
finden. Nirgends standen Straßenschilder, und außer den Briefkästen an den Einfahrten deutete nichts darauf hin, dass sich hinter den Bäumen und Büschen tatsächlich bewohnte Häuser befanden.
Dass man uns in diese gottverlassene Ecke umgesiedelt hatte, war offensichtlich aus rein taktischen Gründen erfolgt – um es anderen so schwer wie möglich zu machen, uns zu finden. Als ich die Orange Avenue erreicht hatte, veränderte sich die Umgebung plötzlich, als hätte ich eine unsichtbare Grenze überschritten. Wie aus dem Nichts gab es hier auf einmal ganz normale hübsche Häuschen mit gepflegten Vorgärten, an denen ordentlich angelegte Gehwege vorbeiführten. Ich fühlte mich auf der Stelle besser, wie jemand, der in einem fremden Land unterwegs ist und zu seiner großen Erleichterung feststellt, dass die Einheimischen seine Sprache sprechen. Ungefähr in der Mitte des ersten Straßenblocks kam ich an einem Krankenhaus vorbei, und zwei Ecken weiter entdeckte ich auf der anderen Straßenseite ein Flachdachgebäude mit einem Schild, auf dem GROVE CITY SECONDARY SCHOOL stand.
Secondary School?, fragte ich mich ratlos, weil ich diese Schulform nicht kannte. War das eine Middle School oder eine Highschool? Ich überquerte die Straße und ging langsam an dem Gebäude entlang, versuchte, einen Blick ins Innere zu erhaschen und zu sehen, was sich hinter den Fenstern verbarg. Die Klassenzimmer waren dunkel und die Fenster in einem Winkel angebracht, der nur einen Blick auf die Tafeln gestattete. Die wenigen Hinweise, die ich fand, waren seltsam widersprüchlich. Auf einem Fenstersims stand eine Reihe Geografiebücher, die ich dem Lehrplan einer Middle School zuordnete, aber entlang der Wand eines anderen Klassenzimmers standen auf einer Schautafel chemische Symbole, die dem Unterrichtsstand einer Highschool entsprachen.
Von Neugier getrieben und weil mir meine Erkundungstour anfing, Spaß zu machen, ging ich um das Gebäude herum und entdeckte auf dem Gelände dahinter einen Softballplatz, eine kleine Turnhalle und einen mit Maschendraht umzäunten Tennisplatz.
Noch bevor ich den Platz ganz sah, hörte ich das Geräusch rhythmisch geschlagener Bälle. Für einen Augenblick war ich wieder in meinem Albtraum von heute Morgen gefangen und glaubte, jeden Moment die Zuschauerränge mit den vertrauten Gesichtern zu sehen, die auf mich herabblickten. Die Erinnerung verblasste jedoch sofort, als ich an dem Zaun ankam und die beiden Spieler auf dem Platz sah. Sie schienen ungefähr in meinem Alter zu sein, sahen wie Bruder und Schwester aus, und der Junge hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit Bobby Charo. Bobby war dunkelhaarig und drahtig, der Junge vor mir hatte weizenblonde Haare und eher die muskulöse Statur eines Quarterback als die eines Tennisspielers.
Ich trat durch das Tor und setzte mich auf eine der Zuschauerbänke. Die beiden spielten weiter, ohne sich von mir stören zu lassen, aber während der Pause zwischen den Spielen schaute der Junge zu mir rüber und gab mir mit einem Nicken und Lächeln zu verstehen, dass er mich gesehen hatte. Er war bei Weitem der bessere Spieler der beiden. Das Mädchen war nicht besonders schnell und wirkte schon ziemlich aus der Puste, wohingegen der Junge nicht sein ganzes Können ausspielte, sondern sich merklich zurückhielt, um seine Gegnerin nicht zu entmutigen. Er entschied das Spiel für sich, ließ sie das nächste gewinnen, bevor er mit ein paar starken Aufschlägen das Match beendete.
Das Mädchen wirkte eher erleichtert als enttäuscht und begann die Bälle einzusammeln und in die Dose zu packen.
»Hey, du willst doch nicht etwa schon aufhören!«, rief er ihr zu.
»Und ob! Gegen dich hab ich doch sowieso keine Chance.«
»Ach, komm schon, Kim, sei keine Spielverderberin! Du hast gerade erst angefangen, dich ins Zeug zu legen.«
»Von wegen. Ich bin fix und fertig. Für heute ist Schluss. Aus. Ende.«
»Du bist eine miserable Verliererin!« Der Typ drehte sich um und sah mich an. »Hallo, du da drüben. Du kannst nicht zufällig Tennis spielen?«
»Eigentlich schon«, sagte ich und erwiderte sein Lächeln. »Im Moment bin ich allerdings ziemlich außer Form.«
»Hast du Lust, einfach so zum Spaß ein paar Bälle zu schlagen?«
»Warum nicht? Aber ich habe keinen Schläger dabei.«
»Du kannst dir den von Kim leihen.« Er drehte sich zu dem Mädchen um. »Du hast doch nichts dagegen, oder?«
Kim hob ein Handtuch von der Seitenlinie auf und wischte sich
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