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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roel Verschueren
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Fünfzigjährigen nach Hause kommen würde. Mit einem ›Ignostiker‹, der, wie du dich ausgedrückt hast, schon ein erfülltes Leben hinter sich hat, eine andere Sprache spricht und aus einem anderen Milieu stammt.«
    »Ach komm, es ist doch damals eigentlich alles gut gelaufen. Ich hatte Schlimmeres erwartet. Du hast nette Eltern, Lilly.«
    »Danke.«
    »Ich mag deine Mutter sehr.«
    »Und sie dich«, lächelte Lilly und streichelte sein Bein.
    »Wenn Moira gleich wach wird, fahre ich beim ersten Parkplatz raus und wir machen eine Pause. Dann kannst du sie stillen und ich vertrete mir die Beine. Noch eine Stunde und wir sind da.«
    Während Lilly mit Moira auf der Bank in der milden Mittagssonne saß, ging Victor am Ufer des Übersees entlang und rauchte eine Zigarette. Er musste feststellen, dass sehr viele seiner Erinnerungen an Albert verblasst waren. Aber seit er diesen Brief bei seiner Mutter gefunden hatte, kamen in schöner Regelmäßigkeit kleinste Details zurück. Ein Satz, den sein Vater einmal ausgesprochen hatte und der auf einmal wichtig erschien. Eine Geste, oder wie er aß, wie er abends nach der Arbeit hereinkam. Sein kurzer Mittagsschlaf auf der Bank im Esszimmer. Victor lächelte. Er sah plötzlich die Szene mit ihm und seinem Vater in dem kleinen Badezimmer zu Hause vor sich. Er war dreizehn und hatte in Gegenwart seines Bruders, aus einem Grund, an den er sich nicht mehr erinnerte, im Flur vor dem Badezimmer seinen Vater einen »alten Sack« genannt. Es war früh an einem Sonntagmorgen und alle machten sich für den Familienbesuch fertig. Als er das Badezimmer betrat, stand sein Vater da und rasierte sich. Er drehte sich – voller Rasierschaum – zu Victor um und gab ihm die einzige wirklich feste Ohrfeige, die er jemals bekommen hatte. Albert drehte sich zum Spiegel zurück, als wäre nichts geschehen. Victor war heulend nach draußen gelaufen. Als er seinem Vater später wieder begegnete, war alles so, als ob nichts geschehen wäre. Aktion, Reaktion, vorbei.
    »Wir sind fertig«, sagte Lilly, die zu ihm herüberspaziert war.
    »Dann fahren wir weiter. Hatte sie Hunger?«
    »Unser kleiner Engel hat immer Hunger. Anderthalb Brüste«, sagte Lilly.
    Victor startete den Wagen und fuhr ruhig, knapp über der zugelassenen Geschwindigkeit, zurück auf die Autobahn. »Ich hoffe, dass dein Vater nicht wieder anfängt, vor und nach dem Essen auf Niederländisch zu beten.«
    »Ach Victor, er wollte nur nett sein. Es sollte das Eis brechen und ein Zeichen für mich sein, dass er dich akzeptiert.«
    »Wenn er mich akzeptieren würde, dann hätte er genau diese Geste nicht gemacht.«
    »Sei nicht so kleinlich. Es hatte nichts mit dem Beten an sich zu tun, er hat über deine Muttersprache einen Schritt in deine Richtung gemacht. Mehr nicht.«
    »Wir werden schon sehen, was er heute für mich auf Lager hat«, sagte Victor.
    Lilly seufzte. »Wir sind heute nicht wichtig«, sagte sie. »Für meine Eltern dreht sich diesmal alles um Moira. Entspann dich, okay?« Lilly klappte die Lehne ihres Sitzes nach hinten und schlief innerhalb von fünf Minuten ein.
    Eine Stunde später lenkte Victor den Wagen auf den Parkplatz vor dem Haus und schaltete den Motor aus. Er ging um das Auto herum und öffnete die Tür auf Moiras Seite, schnallte sie vom Babysitz los und brachte sie zu Lilly, die schon auf dem Weg zur Haustür war. Noch bevor sie klingeln konnte, kam ihre Mutter mit breitem Lächeln und ausgestreckten Armen heraus und redete mit Moira. »Jetzt sieh sich das einer an, sieh sich das nur mal einer an. Komm mal zu mir, du kleiner Engel, lass dich aus der Nähe anschauen.«
    Lilly küsste ihre Mutter und übergab ihr Moira. Victor begrüßte Katharina und streckte Markus, der hinter ihr in der Tür stand und wartete, seine Hand entgegen.
    »Gute Fahrt gehabt?«
    »Kein Problem«, sagte Victor. »Und wie geht es euch?«
    »Gut, gut. Alles wie gewohnt. Viel Gartenarbeit, bevor der Winter einbricht. Du kannst mir später mit dem Brennholz helfen. Wir müssen ein paar Kubikmeter stapeln und haben zu wenige Hände.«
    Victor schaute auf einen riesigen Haufen gehacktes Holz, der neben der Wohnung lag. »Ich helfe dir gern«, sagte er.
    Lilly lachte und warf ihm eine Kusshand zu.
    Sie gingen hinein, in die kleine Küche. Lilly zog Moira die warmen Sachen aus und merkte, dass sie ihr die Windel wechseln musste. Sie ging zusammen mit ihrer Mutter ins Badezimmer, wo ein Wickeltisch improvisiert worden war, eine neue

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