Schweig wenn du sprichst
verteidigen.«
»Offensichtlich.«
»Als ich sie nach meinem Besuch bei Maaike angerufen und gefragt habe, ob sie etwas für mich in der Bibliothek nachschauen könne oder auf dem Speicher, wo sie normalerweise alles aufbewahrt, sagte sie, dass sie alles weggeworfen habe. Dass sie nichts über meinen Vater behalten habe. Das glaubt doch kein Hund? Und als ich ihr sagte, dass man Erinnerungen nicht auslöschen könne, antwortete sie, dass sie sich an so gut wie nichts erinnere, dass alles zu lange her sei und dass ich es dabei belassen solle.«
»Tja, ein Mensch von dreiundachtzig mit einem klaren Standpunkt.«
»Lilly, eine Familie ohne Überlieferung kann als Familie nicht überleben. Ihr Wissen gehört ihr doch nicht allein. Sie hat die verdammte Pflicht, es mit uns zu teilen. So wie ich die verdammte Pflicht habe, mir das anzuhören und es meinerseits weiterzugeben.«
»In unserer Familie läuft das genauso«, sagte Lilly.
»Ach, meine Mutter benimmt sich stur wie ein Kind und ich stehe daneben und sehe zu.«
»Und das ist für Victor sehr schwer«, lachte Lilly mitfühlend.
»Ich finde das nicht schön, Lilly. Was, wenn Moira in ein paar Jahren zu mir kommt und fragt: ›Wie war Opa eigentlich?‹«
Lilly legte ihre Arme um Victor und küsste ihn auf den Mund.
»Ruhig Blut. Du hast alle Zeit der Welt und Moira noch mehr. Hast du deiner Mutter auch geschrieben, so wie dem Rest der Familie?«
»Ich habe lange geschwankt, aber ich schicke ihr denselben Brief.«
»Warte einfach mal ab. Wann fahren wir zu meinen Eltern?«
»Morgen, so gegen Mittag. Ich freue mich richtig darauf. Die Veränderung wird mir gut tun. Ist es okay, wenn wir gegen Mittag losfahren?«
»Ja, aber dann muss ich mich beeilen. Ich muss jetzt schließlich für zwei packen, und von meinen paar Sachen wird die Tasche bestimmt nicht schwer.«
»Schon verstanden. Ich gehe mit Moira spazieren. Aber das hattest du vermutlich sowieso erwartet, oder?«
7
»Woran denkst du?«
Victor löste sich träge aus seiner Grübelei, blinzelte mit den Augen und fragte: »Was?«
»Woran denkst du? Du hast die ganze Fahrt über kaum was gesagt.«
»Ich denke an Augenbrauen«, sagte Victor.
»Das ist mal was anderes.«
»Weißt du noch, als du mich zum ersten Mal mit zu deinen Eltern genommen hast?«
»So als wäre es gestern gewesen«, sagte Lilly.
»Mein größter Schock war damals nicht, wie nervös ich war, sondern die Augenbrauen meines Vaters vor mir zu sehen, als ich Markus begrüßte.«
»Du hast gewirkt wie ein pubertierender Jugendlicher, der von seiner Geliebten zur Schlachtbank geführt wird, Liebling. Vielleicht hast du nur seine Augenbrauen gesehen, weil du meinem Vater nicht in die Augen sehen wolltest?«
»Mein Mund war staubtrocken, ich hab am ganzen Körper gezittert und bin wie ein nervöses Rind hinter dir her gewackelt. Das war schon schlimm genug, aber zum ersten Mal seit langer Zeit hab ich Dinge gesehen, die mich an Albert erinnerten.«
»Aber mein Vater ist viel älter, dein Vater war in seinen Fünfzigern, als er starb. Wie können Menschen mit einem solchen Altersunterschied gleich aussehen?«
»Darum geht es ja gerade. Ich versuche schon so lange, mir ein Bild davon zu machen, wie mein Vater aussähe, wenn er heute noch lebte. Von Eltern nimmt man gewöhnlich an, dass sie parallel zu ihren Kindern altern, und das tut mein Vater eben nicht. Das letzte Bild, das ich von ihm im Kopf habe, beginnt erschreckend stark dem zu ähneln, was ich im Spiegel sehe.«
»Was siehst du denn, wenn du in den Spiegel guckst?«
»Einen schnell alternden Mann, der mehr als die Hälfte seines Lebens hinter sich hat, einen Mann mit zwei erwachsenen Kindern aus erster Ehe und einen Mann, der physisch eindeutig der Sohn seines Vaters ist«, sagte Victor.
»Na und? Du holst ihn mit großen Schritten ein. Beängstigt dich das?«
»Ich war mir immer sicher, dass ich nicht älter werde als er.«
»Und das sagst du mir jetzt erst?«, fragte Lilly erschrocken. »Gibt es da etwas, das ich wissen sollte? Hast du konkrete Gründe für diese Vermutung oder ist es dieses typische Gefühl von Menschen, die zu früh einen Elternteil verlieren?«
»Ich weiß es nicht, aber es beschäftigt mich. Ich frage mich eben, ob ich auch in Bezug auf die Mentalität und Moralvorstellungen so eindeutig der Sohn meines Vaters bin.«
»Das kannst nur du beantworten, fürchte ich. Es war für meine Eltern auch nicht vorhersehbar, dass ihre Tochter mit einem
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