Schweig wenn du sprichst
neuen Bekannten besuchte: die Kathedrale, das Belfort, das Theater und die Oper, die vielen Plätze mit Blumenmärkten und Gemüseständen. Er erzählte ausführlich von seiner Teilnahme an der 27. Wallfahrt zur Ijzer und seinem Besuch des Gesangsfests an der Schelde, den vielen Messen, Vespern, Tauffeiern, den Andachten und Beerdigungen, zu denen er eingeladen wurde. Er schrieb, wie sehr er sich zu Hause fühlte, überall herzlich aufgenommen worden war und dass er mit Bedauern im Herzen von all dem Abschied nehmen musste. Nicht ohne vorher eine Messe für alle Freunde, die er dort kennengelernt hatte, feiern zu lassen. In seiner schönsten Handschrift beschrieb er die Rückfahrt, die ihn über Paris zurück nach Bregenz führte.
Victor holte tief Luft und schaute Lilly ungläubig in die Augen.
Lilly nahm das Büchlein erneut zur Hand und überprüfte Daten, Orte, Fakten und las die Details und Beschreibungen noch mal.
»Zufall mit großem ›Z‹«, sagte Victor.
»Ich glaube nicht an Zufälle«, sagte Lilly.
»Komm schon. Er hat im Elf-Uhr-Hochamt in der Kathedrale gesessen, fünfzig Meter von der Stelle entfernt, wo ich gewohnt habe, bevor ich nach Wien gezogen bin. Genau an dem Tag, an dem meine Mutter, ungefähr zweihundert Meter entfernt, meine jüngste Schwester zur Welt brachte. Er war auf derselben Ijzer-Wallfahrt und beim selben Gesangsfest, wo ich zusammen mit meinem Vater in jenem Jahr hingegangen bin.«
»Mein Vater steckt voller Überraschungen. Davon wusste ich nichts. Er hat nie darüber gesprochen«, sagte Lilly.
»Unheimlich … sich vorzustellen, dass dein Vater, mein Vater und ich vielleicht ein paar Meter voneinander entfernt auf derselben Weide gestanden haben.« Victor stand auf, fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wow!«, war das Einzige, was er herausbrachte.
Lilly legte das Büchlein zur Seite, gab ihm einen Kuss und schmiegte sich an ihn. Sie legte ihren Arm über seine Brust und machte ihn nach: »Du meinst, es wird schon für weniger geheiratet?«
»Glaubst du, dass Markus eine Affäre mit seiner Zimmerwirtin hatte?«
»Ach komm, Victor. Du alter Romantiker. Auf jeden Fall hatte er mehr Respekt vor ihr als vor mir!« Lilly warf Victor ihr Kopfkissen ins Gesicht. »Männer!«
8
4. Februar 1944
Wie leicht, aber auch wie schwer fällt es mir, mein schönes Flandernland zu verlassen. Schwer bepackt und mit der schönen Uniform einer Schwestern-Helferin reisen wir von Brüssel nach Berlin. Dieses neue, kleine Heft wird mein Reisegefährte. Es dauert mich, dass Vater sich nicht verabschieden wollte. Mutter hat nur geweint, als er streng zu mir gesagt hat, dass er keine Tochter und ich keinen Vater mehr hätte, wenn ich in den Zug steigen würde. Ich trage das mit mir wie eine bittere Last. Aber ich vergebe ihm, denn ich bin es, die ihm das Leben schwer macht.
Das tue ich schon, seit ich auf der Welt bin. Er hat es mir mehr als einmal gesagt. Und jetzt mache ich es wieder, indem ich meinen eigenen Weg gehe. Er sagt, dass ich ein Kreuz für ihn sei und schwer zu tragen. Er schämt sich, dass ich nach Deutschland reise. Ich bin stolz und nervös, traurig und froh zugleich. Ich habe vor der Fahrt reinen Tisch gemacht. Ich erzähle allen, dass mein Name Lucy ist. Ich hasse den Namen Lucretia, den hat er mir gegeben. Er nennt mich immer Luc. Ich habe mein Bestes versucht, ihm den Sohn zu ersetzen, den er sich gewünscht hätte. Aber das lasse ich jetzt alles hinter mir.
Von den zweiunddreißig Mädchen in unserer Gruppe kenne ich nur Machteld. Sie wohnt bei uns um die Ecke und ist auch einundzwanzig. Drei Monate liegt ihr Bruder schon an der Front und sie hofft, ihn gesund und wohlauf wiederzusehen. Sie ist ein liebes, rundes Prachtweib, das uns häufig zum Lachen bringt.
Am Bahnhof herrschte ein heilloses Durcheinander. Nur Tante Maria war da, um sich von mir zu verabschieden. Dank ihr habe ich überhaupt wegfahren könne. Sie hat alles geregelt und ich bin ihr ewig dankbar dafür. Ihre Liebe zu unserem Land und ihr Glaube haben mir die Augen geöffnet. Ich weiß jetzt, dass ich nicht untätig sein kann, während andere sich aufopfern. Sie hat mir gesagt: »Lucy, die Menschen dort brauchen dich«, und sie hat mir den Rat gegeben, zu bleiben wie ich bin.
Die Oberschwester, die uns im Zug begleitet, meint, dass wir das Ehrenkleid der Frau im Krieg tragen und dass wir die edelste Aufgabe erfüllen, die einer Frau zuteil werden kann.
Wir
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