Schweig wenn du sprichst
wann lässt du dir was von meinem Vater vorschreiben?«
»Lilly.«
»Ja?«
»Erklär ihm, dass ich seine Art nicht lustig finde. Nächstes Mal gebe ich ihm eine entsprechende Antwort.«
»Ich glaube, das hat er inzwischen selbst gemerkt. Wenn nicht, werfe ich mich zwischen euch«, sagte Lilly.
»Du brauchst nicht dazwischenzugehen. Ich sage dir einfach, dass ich beim nächsten Mal zurückwitzele.«
»Verstehe ich.«
»Ich warte auf dich.«
Eine Stunde später kam Lilly nach oben. Sie lief sauer ins Badezimmer und zog sich aus. Victor sah an der Art, wie sie sich die Zähne putzte, an der Geschwindigkeit, mit der sie ihr Gesicht wusch und abtrocknete, dass sie böse war. »Probleme?«, fragte er.
»Ach, immer dasselbe.«
»Möchtest du darüber sprechen?«
»Eigentlich nicht … Na ja, eigentlich doch. Mein Vater geht mir manchmal dermaßen auf die Nerven, das kannst du dir nicht vorstellen.«
»Ich dachte, nur ich hätte dieses Problem «, sagte Victor. »Willkommen im Club.«
»Nein, es ist schon mein ganzes Leben lang so. Wenn Männer am Tisch sitzen, tut er so, als sei ich Luft. Er spricht nie direkt mit mir, stellt mir keine Fragen, und wenn ich mich in ein Gespräch einmische, tut er so, als ob er nichts hört. Das war schon so als ich sechs war, mit sechzehn, mit sechsundzwanzig, und es hört nicht auf. Ich habe es wirklich satt.«
»Und deine Mutter?«
»Die ist das so gewohnt, dass es ihr schon gar nicht mehr auffällt. Glaubst du, dass mein Vater mich jemals gefragt hat, wie es bei meiner Arbeit läuft? Was ich genau mache? Wenn jemand anderer danach fragt und ich eine Antwort gebe, sehe ich ihm an, dass er schon mit seinem nächsten Gedanken beschäftigt ist. Ja, wenn es um Moira geht, wenn ich in meiner Eigenschaft als Mutter vor ihm sitze, dann glänzen seine Augen. Aber ich als Frau? No way.«
»Vielleicht hat er ein selektives Interesse?«, versuchte Victor.
»Mach ruhig deine Witze!«, sagte Lilly. »Warum verteidigst du ihn überhaupt? Er würde das nie tun, glaub mir. Verteidigen bedeutet Unrecht zugeben. Ich frage mich, was er zu erzählen hat, wenn er zur Beichte geht.«
»Aber, vie…«
»Ach, vergiss es, es ist schon vorbei. Aber eines Tages sage ich es ihm ins Gesicht. So, aufmachen, jetzt!«
»Was?«
»Diesen Umschlag, den er dir gegeben hat.«
Der Umschlag enthielt ein Büchlein mit marmoriertem rotschwarzem Umschlag und in schwarzes Leinen gebundenem Rücken. Es zählte ungefähr achtzig blau linierte Seiten mit roter Anfangsspalte, die mit fester Hand und hellblauer Tinte vollgeschrieben waren. Ein kleines Tagebuch in Markus’ bescheidener Handschrift, das drei Monate seines Lebens behandelte. Auf Hochdeutsch beschrieb er Tag für Tag und bis in die kleinsten Details alltägliche Erlebnisse. Er fuhr 1954 mit dem Abendzug von Bregenz, über Wiesbaden, Köln und Brüssel nach Gent. Einen Tag später, am neunten Mai, kam er auf dem Sint-Pieter-Bahnhof an und wurde von einem Mitarbeiter der staatlichen Hochschule für Landwirtschaft aus Melle abgeholt. Er blieb die ganze Zeit über bei einer Gastfamilie, die vom örtlichen Pastor und den Professoren der landwirtschaftlichen Versuchsanstalt für ihn gesucht worden war, und arbeitete dort mit sechs anderen Arbeitern zusammen. Er beschrieb vor allem die Mutter der Familie. Sie war seine Zimmerwirtin, dreiunddreißig Jahre alt, mit einem sechsjährigen Sohn, der keinen Vater mehr hatte. Er war gestorben, aber weiter stand darüber nichts in dem Büchlein. Er beschrieb, wie sehr er sich zu Hause fühlte und dass er ein warmes Nest gefunden hatte. Ganze Kapitel handelten von der Hochschule, wo mit Viehfutter, Kreuzungen, Rassenveredelung von Kühen und Pferden, Verdauungsforschung bei Schafen, Mist und Melkmethoden experimentiert wurde. Das Büchlein war angefüllt mit frommen Liedern, dem »Vater Unser«, dem »Ave Maria«, den zehn Geboten, kirchlichen Psalmen, Glaubenslyrik; allesamt auf Niederländisch. Markus beschrieb minutiös, wem er begegnete, welche Gebäude er besuchte und was er täglich erlebte. Er fasste die Gespräche zusammen, die er mit seiner Zimmerwirtin über das Leben, das Land und die Kirche führte und wer oder was sie beide interessierte. Er beschrieb lange Spaziergänge, die er mit ihrem Sohn unternahm. Er ging mit ihm auf Entdeckungstour oder einfach an den breiten Fluss zum Schwimmen oder Angeln, weil es erfrischend war und er sich gern dort aufhielt. Markus zählte die Orte auf, die er mit seinen
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