Schweig wenn du sprichst
werden auf unsere Weise unseren Männern Hilfe leisten, die zur Verteidigung dessen, was ihnen kostbar und heilig ist, hinausgezogen sind: Kämpfen für Haus und Herd, für Mütter und Schwestern, für Frau und Kind. Sie sagt, dass es hart wird, aber das schreckt mich nicht ab. Und dass wir unsere Jungs pflegen müssen, sie aufmuntern müssen und ihnen ein Gefühl von zu Hause geben müssen. Ich werde sie pflegen, als ob es meine Jungs wären. Als ob es die Brüder wären, die ich nie hatte, und die Söhne, die mein Vater sich gewünscht hatte.
In Berlin bekommen wir noch eine Zusatzausbildung. Meine wird kurz sein, sagt die Oberschwester, denn ich habe alle erforderlichen Zeugnisse. Sie sagt, das wir auch eine politische Schulung erhalten, die uns ein klares Bild davon vermitteln soll, wie wichtig unser Einsatz ist. Ich hoffe, dass sie mich schnell weiterschicken und in dem noblen Kampf einsetzen, den wir im Namen von Flandern gemeinsam führen werden.
Ich bin gespannt und neugierig und verstecke meine Aufregung vor den anderen. Obwohl ich glaube, dass ich nicht die Einzige bin, die so gespannt ist und sogar ein ganz kleines bisschen Angst hat.
Später schreibe ich mehr, liebes Tagebuch. Ich bin das Schreiben noch nicht so gewohnt.
9
»Hat schon jemand geantwortet?«
»Du bist die Erste, die erfährt, wenn es so weit ist«, sagte Victor.
Nach zwei Wochen schob er die ausbleibenden Antworten seiner Familie auf die schlecht organisierte Post. Nach drei Wochen auf die Tatsache, dass Österreich natürlich nicht direkt vor ihrer Haustür lag. Und schließlich darauf, dass diese alten Menschen zwar noch am Leben waren, aber vielleicht etwas anderes zu tun hatten, nicht mehr so gut sehen konnten, Hilfe beim Formulieren brauchten oder bei ihrem täglichen Jass- oder Herzjagen-Kartenspiel in irgendeinem Seniorenclub festsaßen. Und dann klingelte der Postbote. »Hast du etwas bestellt, das nicht in den Briefkasten passt? Kannst du die Tür aufmachen, ich bin noch nicht angezogen«, rief Lilly aus der Küche.
Victor sprang auf, öffnete die Tür und sah das Paket.
»Tatsächlich für mich«, sagte er und quittierte den Erhalt. »Gibt es auch noch normale Briefpost?«, fragte er.
»Ja, aber die habe ich unten in ihren Briefkasten geworfen.«
Victor rannte die Treppe hinunter. Kurz darauf lief er schnell durch den langen Flur zu seinem Arbeitszimmer. »Erst meine Bestellung bei eBay und dann auch noch eine Antwort von Onkel Marcel. Heute ist ein guter Tag!«
Er öffnete zuerst das eBay-Paket. Die siebenbändige Reihe über den Zweiten Weltkrieg wog eine Tonne, war aber für ein Sammlerstück aus zweiter Hand in absolut perfektem Zustand. Der Brief war ein großer weißer, wattierter Umschlag und ziemlich zerknittert. Die Adresse stand in großen, handgeschriebenen Buchstaben darauf.
»Ich liebe große Umschläge.«
»Solange sie nicht braun sind, wenn ich mich recht erinnere?«, sagte Lilly, die in sein Zimmer kam.
»Hmm …« Victor ging auf sie zu und streichelte ihre nackten Brüste und Oberschenkel.
»Zeit für einen Quickie?«
»Erst nachsehen, was drin ist«, sagte Victor. Er schnitt den Umschlag vorsichtig auf und breitete den Inhalt auf seinem Arbeitstisch aus. Ein mit schwarzer Tinte geschriebener Brief, eine Kinderbibel in flämischer Sprache und ein Abzeichen. »Aargh … Ich brauche erst Kaffee«, sagte Victor.
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Lilly. »Wie kannst du jetzt so ruhig bleiben?«
»Ich möchte es genießen«, sagte er und war schon unterwegs zur Küche.
»Den Brief, den Kaffee oder den Quickie?«, rief Lilly, aber Victor antwortete nicht. Sie nahm den Brief in die Hand und warf ihn nach ein paar Sekunden wieder auf den Tisch. »Verdammt, ich wünschte, ich könnte Niederländisch lesen«, sagte sie leise und ging zum Sofa. Sie griff zum Telefon und rief, wie jeden Tag, ihre Mutter an.
Victor kam mit zwei Tassen Kaffee ins Wohnzimmer, reichte Lilly eine davon und flüsterte: »Alle drei!« Sanft streichelte er Lillys Scham.
Sie schob ihn mit einem Lachen weg. »Hallo, Mama.«
Er ging in sein Arbeitszimmer und schloss die Tür.
Lieber Victor,
welche Überraschung zu lesen, dass du jetzt in Wien wohnst. Ich war einmal mit deiner Tante Maria dort, ich glaube, 1963, und habe gute Erinnerungen an diese Stadt. Wie du wahrscheinlich weißt, ist Maria 2001 gestorben. Deine Fragenliste zeigt, dass du auf der Suche nach Informationen über Albert bist. Ich war sein jüngster Bruder und
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