Schweig wenn du sprichst
er so war, wie er war, was genau passiert ist und wie das vielleicht jeden von uns beeinflusst hat?«
»Ich habe ein Bild von ihm, das ich bewahren möchte, Victor. Der ganze Rest ist Geschichte und vorbei. Vollkommen unwichtig für unser weiteres Leben.«
»Anna, du sprichst häufig darüber, wie sehr Karel seinem Opa ähnelt, und zwar nicht nur physisch. Wie kannst du mit dem bisschen, was wir über ihn wissen, zu diesem Schluss kommen? Dein Sohn ähnelt einem Etwas, das du in deiner Erinnerung festgezurrt und idealisiert hast. Aber inwiefern stimmt dieses Bild mit der Wirklichkeit überein?«
»Ich habe dir immer schon gesagt, dein Problem ist, dass du als Einziger keinen Abschied von Vater nehmen wolltest. Wir alle haben seiner Leiche die letzte Ehre erwiesen, außer dir. Wir haben ihn losgelassen und ihn so akzeptiert, wie er war. Du bist nie von ihm losgekommen. Ich fürchte nur, dass das, was du jetzt gerade versuchst, nicht mehr viel bringen wird.«
»Ach, komm. Wie billig. Hör doch auf mit dieser amateurhaften Psychoanalyse. Ich schaue mir keine Leichen an, ob das nun mein Vater ist oder jemand anderer. Soll ich mich damit vielleicht für den Rest meines Lebens rumschlagen?«
»Lass die Dinge ruhen, Victor«, fuhr sie fort. »Du hast eine tolle Beziehung, eine Tochter, die all deine Aufmerksamkeit verdient, und einen Vater, den du bewundern kannst. Ich wünsche dir Ruhe, Victor. Und das meine ich wirklich so.«
»Danke. Trotzdem glaube ich, dass ich nur zur Ruhe komme, wenn ich das hier mache. Aber«, fügte er schnell hinzu, »ich respektiere deinen Standpunkt und werde dir nicht mehr zu Last fallen.«
»Ach«, Anna stöhnte leise, »ich kenne dich, und deshalb wünsche ich dir trotzdem viel Erfolg bei der Suche. Ich bitte dich nur, lass dabei Mutter und mich aus dem Spiel!«
»Hormone und Frauen in den Wechseljahren … Genau das, was ich brauche.«
»Was sagst du? Ich habe dich nicht verstanden.«
»Nein, nichts. Ich habe mit mir selbst gesprochen.« Victor wartete kurz und sagte: »Anna?«
»Ja.«
»Ich habe noch eine Frage, vielleicht würdest du mir die beantworten.«
»Du kannst sie ja mal stellen.«
»Wenn ich bei unserer Mutter zu Hause bin oder sie anrufe und von Vater spreche, wegen einer Erfahrung, die ich selbst als Vater gemacht habe, dann habe ich immer das Gefühl, dass sie in ihrem Innersten wahnsinnig wütend auf ihn ist. Und dieses Gefühl hat in letzter Zeit zugenommen. Glaubst du, dass es etwas mit damals zu tun hat?«
»Victor, unsere Mutter ist schon ihr ganzes Leben lang böse auf unseren Vater. Hör zu, warte mal kurz …«
Er hörte, dass sie den Hörer zuhielt und rief, dass der Ofen ausgemacht werden solle. »Zwei Jahre nachdem er gestorben war, habe ich ihr beim Aufräumen seiner Sachen geholfen. Wir sind dabei auf eine Akte von einem Arzt aus Brüssel, einem Kardiologen, gestoßen.«
»Aha.«
»Aus dieser Akte ging hervor, dass er zwei Jahre vor seinem Tod, nach einer gründlichen Untersuchung, den dringenden Rat bekommen hat, mit der Arbeit aufzuhören und es unbedingt ruhiger angehen zu lassen. Er sollte sich anders ernähren, mit dem Rauchen aufhören, mehr ausspannen und eine strenge Medikation einhalten … Alles Dinge, von denen er nichts wissen wollte.«
»Und warum ist sie darüber jetzt noch böse?«
»Weil er nie mit ihr über diese Untersuchung und die Ergebnisse gesprochen hat. Er wusste, was er tat. Es stand in Großbuchstaben ›dringender Rat‹ darüber und er wusste, dass seine Entscheidung, diesen Rat nicht zu befolgen, verhängnisvoll sein konnte.«
»Hmm … Spontan würde ich sagen, dass es trotzdem sein Recht war, zu entscheiden, ob er diese Informationen anderen mitteilen möchte oder nicht.«
»Falsch!«, rief sie. »Eine primitive und typisch männliche Reaktion. Wenn die Entscheidung eines Mannes solche Auswirkungen auf seine Partnerin hat, dass auch ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt wird, dann muss er ihr das mitteilen. Dann hat sie wenigstens die Möglichkeit, sich darauf einzustellen.«
»Es scheint mir weniger simpel, als du es siehst. Ich muss darüber nachdenken. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie deshalb seit mehr als dreißig Jahren böse auf ihn ist. Es wirkt manchmal fast so, als hätte sie ihn regelrecht ausgelöscht … Na ja, danke, dass du mir das erzählt hast.«
»Ich schicke dir eine Kopie seiner Akte. Bilde dir selbst ein Urteil. Vielleicht verstehst du dann besser, warum unsere Mutter seit
Weitere Kostenlose Bücher