Schweig wenn du sprichst
muss daher tief in meinem Gedächtnis kramen, wenn es um diesen Zeitraum geht. Ich tue mein Bestes, aber garantieren kann ich für nichts. Nächste Woche kommt meine Tochter Agnes vorbei. Ich habe mit ihr verabredet, dass ich ihr alles erzählen werde, was ich noch weiß. Und sie schickt dir dann, was sie für mich aufschreibt.
Ich kann allerdings jetzt schon bestätigen, dass Albert, zusammen mit ungefähr hundertzwanzig anderen, am 30. März 1942 nach Graz-Wetzelsdorf gereist ist und dass er dort Verwaltungsangestellter war. Ich schicke für deine kleine Tochter eine flämische Bibel mit. Vielleicht kannst du so eine da unten nicht kaufen. Mein Vater hat regelmäßig, abends vor dem Schlafengehen, daraus vorgelesen. Die Sprache ist zwar veraltet, der Einband ist etwas eingerissen, aber was darin steht, ist noch genauso wahr wie damals.
Das Abzeichen, das ich mitschicke, habe ich von Albert bekommen, als er irgendwann im Laufe des Jahres 1943 kurz in Belgien war. Ich erinnere mich, dass er damals gesagt hat, er brauche es nicht mehr, weil er ein anderes bekommen habe. Es hat all die Jahre in einem meiner vielen Sammelalben gesteckt und ich hatte es völlig vergessen, bis dein Brief hier ankam.
Du siehst gut aus auf dem Foto. Wenn du wieder einmal im Lande bist, komm auf einen Sprung vorbei, das würde mich sehr freuen.
Bestell Lilly liebe Grüße und mach ein Kreuzzeichen auf Moiras Stirn von mir.
Onkel Marcel
Bevor er den Brief ein zweites Mal lesen konnte, klingelte sein Handy.
»Was soll das?«
»Hallo?«
»Was soll das?«, wiederholte Anna.
»Könntest du das etwas präzisieren? Ich trinke gerade Kaffee, ich lese die Post. Was soll was?«
»Unsere Mutter ist völlig aus dem Häuschen. Ich habe sie heute schon viermal am Telefon gehabt, total in Panik. Sie sagte, dass du ihr eine Fragenliste über Vater geschickt hast, und offensichtlich nicht nur ihr.«
»Ja, und?«
»Brauchtest du deshalb die Daten von mir? Habe ich dir all diese Adressen gegeben, damit du in der Vergangenheit unseres Vaters herumwühlen kannst und anderen Menschen damit zur Last fällst?«
»Ho-ho, immer mit der Ruhe. Wieso hast du denn ein Problem damit?«
»Natürlich habe ich ein Problem damit. Ich dachte, dass du einfach Neujahrskarten an die Familie, die du zurückgelassen hast, verschicken wolltest.«
»Genau das habe ich getan. Aber ich habe sie auch gebeten, mir alles zu schicken, was sie noch aus der Zeit, in der unser Vater weggegangen ist, besitzen oder wissen.«
»Victor, unser Vater war unser Vater. Er ist zu früh gestorben und hat über diese Zeit in seinem Leben nie sprechen wollen. Können wir das nicht respektieren und alles so lassen, wie es ist?«
Victor lief nervös zwischen Tür und Wand auf und ab.
»Es gibt zu vieles, was ich nicht weiß, Anna. Und ich möchte die Antworten. Das hat nichts mit einem Mangel an Respekt zu tun.«
»Dann hoffe ich wenigstens, dass du uns alle in Ruhe lässt. Ich möchte hier keine Dramen und Szenen. Mutter ist verdammt noch mal dreiundachtzig. Das kannst du doch nicht machen! Du weißt doch, dass Vater ein herzensguter Mann war, der immer für andere Leute da war. Was hoffst du denn zu finden? Was könnte für dich sonst noch Bedeutung haben?«
Alles ist von Bedeutung, wenn man auf der Suche nach der Wahrheit ist, dachte Victor. »Alles, was ich über ihn erfahre, ist für mich relevant. Wie kann ich mir ein richtiges Bild von ihm machen, wenn mir Informationen über eine so wichtige Phase seines Lebens fehlen? Wenn alles, was wir über ihn wissen, noch hohler ist als deine Definition. Was soll das sein, ein ›herzensguter Mann‹, Anna?«
Er hörte ihren schweren Atem. Er wusste, wie gefährlich sie sein konnte. Es war nur eine Frage der Zeit.
»Victor, die Wahrheit suchen … Dass ich nicht lache! Versuch doch mal, mir auf irgendeine Art zu erklären, was diese ›Wahrheit‹ über unseren Vater für dich bedeutet?«
»Seine Gene«, sagte Victor.
»Wenn du immer noch überzeugt bist, dass du vollständig von den Genen deines Vater bestimmt wirst, dann kann die Wahrheit, nach der du so sehr suchst, schon lange nichts mehr daran ändern. Dann steckte das alles schon in dir, bevor du atmen konntest. Such meinetwegen alleine weiter, Victor. Ich mache nicht mehr mit.«
»Auch gut. Jedem seine Meinung und jedem sein Wille. Aber irgendwo muss in dir doch auch dieser Drang existieren, das Bild von ihm besser ausfüllen zu können? Möchtest du denn nicht wissen, warum
Weitere Kostenlose Bücher