Schweig wenn du sprichst
seinem Tod so schrecklich verbittert ist. Ich verlasse mich darauf, dass es unter uns bleibt und dass du sie nie damit konfrontierst. Versprochen?«
»Versprochen. Bis später.«
Victor unterbrach die Verbindung.
Er nahm Marcels Brief wieder in die Hand, legte beide Füße auf den Tisch und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Schöne Grüße von meiner Mutter«, sagte Lilly und verschob seinen Stuhl. Sie setzte sich, ihm zugewandt auf seinen Schoß und legte ihren Arm um seinen Hals. Sie küsste ihn lange auf den Mund. »Und? Machst du Fortschritte?«, fragte sie.
»Kaum. Ich muss sehr viel recherchieren und dann möchte ich nach Graz. Vielleicht schon morgen.«
»Ach, das war jetzt die erste Reaktion. Nur Geduld, ich bin sicher, dass noch mehr kommt. Wenn du bis Freitag warten kannst, fahren wir mit dir nach Graz. Ich habe eine Einladung zu einem kleinen Filmfestival und ich würde mir dort gern ein paar Vorstellungen ansehen. Meinst du, das ginge?«
»Und wie machen wir das mit Moira?«
»Wir könnten uns abwechseln. Du machst tagsüber, was du für notwendig hältst, ich gehe abends zum Festival, während du bei Moira bleibst.«
»Okay. Ich buche ein Zimmer für eine Nacht.«
»Und ich habe für jetzt sofort ein Zimmer gebucht«, lachte Lilly. »Und zwar um mal wieder auf andere Gedanken zu kommen.« Sie zog ihn von seinem Stuhl hinüber ins Schlafzimmer.
10
»Hättest du ein Problem damit, wenn wir Moira taufen lassen?«
Victor trat auf die Bremse.
»He, he … Das war nur eine Frage. Deswegen musst du nicht gleich einen Unfall bauen«, sagte Lilly, während sie sich umsah.
Er wartete einige Sekunden. »Darf ich mir für die Antwort Bedenkzeit ausbitten?«
Lilly legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel und sagte: »Nimm dir Zeit.«
»Sag mir nur: Würdest du es für Moira, für dich selbst oder für deine Eltern tun?«
Lilly sah ihn an und lachte. »Darf ich mir für die Antwort auch Bedenkzeit ausbitten?«
»Warum nicht? Im Moment scheint jeder Bedenkzeit für seine Antwort zu brauchen. Meine Mutter nimmt sich offenbar Bedenkzeit bis in die Ewigkeit. Und das Gespräch mit meiner Schwester spukt immer noch in meinem Kopf herum.«
»Deine Mutter hat einen guten Grund, finde ich.«
»Ach ja? Und der wäre?«
»Zugegeben, jeder hat ein Recht auf seinen eigenen kleinen Privatgarten. Nicht alles muss gesagt werden. Aber ich glaube, mir würde es genauso schwer fallen wie deiner Mutter, wenn ich an ihrer Stelle wäre.«
»Du findest also, dass mein Vater ihr seinen Befund hätte mitteilen müssen?«
»Er durfte frei entscheiden, ob er sich an die Vorschriften des Arztes hält oder nicht, aber er hätte es deiner Mutter schon sagen müssen, finde ich.«
»Lilly, wer kann denn damit leben? Sie zu informieren hätte bedeutet, seine freie Wahl aufzugeben. Denn dann wären die letzten Jahre seines Lebens die Hölle gewesen. Der Druck meiner Mutter, sein Leben zu ändern, wäre unerträglich gewesen. So wie ich ihn kenne, wollte er nicht weniger arbeiten. Er wollte nicht mit dem Rauchen aufhören und jeden Tag sieben Pillen einnehmen. Seine Arbeit war sein Leben.«
»Hältst du seine Entscheidung gar nicht für egoistisch?«, fragte Lilly.
»Natürlich ist sie egoistisch, aber es war eine derart wichtige Entscheidung, dass er sie nur aus seinem tiefsten Innern heraus treffen konnte. Nein, ich glaube, dass auch seine Ehe in einem Leben ohne Arbeit für ihn nicht lebenswert gewesen wäre.«
»Warst du dabei, als er gestorben ist?«
»Ich war im Haus, bis er abtransportiert wurde. Meine Schwester ist in den Krankenwagen gesprungen und mitgefahren. Ich nicht.« Victor schluckte. »Ich hätte mitfahren sollen.«
Lilly sah ihn an und schwieg.
»Ich hätte bei ihm sein müssen.«
»Warum hast …«
»Meine Mutter hat Anna mitgeschickt, bevor ich auch nur die Gelegenheit hatte, meine Jacke anzuziehen. Aber ich möchte eigentlich nicht weiter darüber sprechen. Lass uns das Thema wechseln, bitte. Es ist schönes Wetter, wir sind in zehn Minuten da, es ist alles in Ordnung.«
»Gut, dann ist alles in Ordnung«, sagte Lilly.
Sie saßen schweigend nebeneinander. Lilly legte ihre Hand wieder auf seinen Oberschenkel.
»Ich bin gern mit dir zusammen«, sagte Victor.
»Das weiß ich«, antwortete Lilly.
Im Hotelzimmer stand das Kinderbett bereit. Victor nahm Moira aus dem Kindersitz und legte sie vorsichtig ins Bettchen. Sie schlief weiter. »Soll ich uns was aufs Zimmer bestellen?«, fragte
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