Schweig wenn du sprichst
hatte. War der Pfad damals auch aus Kies? Mussten die hundertzwanzig Mann damals schon in Reih und Glied gehen und hallten ihre Schuhe oder Stiefel damals schon im Gleichschritt wieder? Wussten sie, wie kurz die Entfernung zur Kaserne war, oder erwarteten sie einen langen Marsch? Er ging den Pfad ruhig in Richtung Kaserne zurück und hörte die Männer leise sprechen, beinahe flüstern. Er hörte ihre Fußtritte, gleichmäßig, aber noch nicht im Drill, eher etwas chaotisch, ohne Rhythmus. Aber das dauerte nicht lange, sie fanden den Rhythmus schnell, der von Soldaten erwartet wurde. Victor schaute sich um und sah die Felder, die auch sein Vater gesehen hatte. Sie waren bereit für eine neue Aussaat. Er sah eine Ebene, wie Albert sie von zu Hause gekannt haben musste, nur fiel sie hier schräg ab und war von Hügeln umringt, die in der Ferne zu Bergen anwuchsen. Worüber sprach Albert auf dem Weg hierhin? Wer ging neben ihm?
Die Bahnlinie teilte sich hinter der Kaserne. Eine Linie lief weiter zur Stadt, die andere lief zwischen Militärgebäuden hindurch, halb zerstört. Er stand plötzlich wieder vor dem schweren Metallgitter, aber er wusste, dass es diese Absperrung noch nicht gegeben hatte, als sein Vater ankam. Auf dem Foto von 1940, das er von der Kaserne gefunden hatte, war keine Umzäunung zu sehen. Die beiden hässlichen Seitengebäude existierten noch nicht und die Straße war ein Trainings- und Paradegelände. Er stand wieder an der Stelle, wo Albert angekommen war. »Wer in Gottes Namen geht hier freiwillig hinein?«, rief Victor.
Der Wachhabende war nicht mehr A. Weber. Jetzt stand dort der Name S. Seinfelder auf ein khakifarbenes Hemd genäht. »Ist der neue Kommandant schon da?«, fragte Victor.
Zwei Minuten später erzählte er seine Geschichte. Er durfte hinein und in Begleitung eines anderen Soldaten eine kurze Tour um die Gebäude machen. »Nichts berühren, keine Fragen stellen, keine Fotos machen«, hatte der Kommandant noch gesagt. Elf Minuten später war Victor wieder am Gitter, bedankte sich bei dem Soldaten und schüttelte dem Kommandanten die Hand.
»Erkundigen Sie sich bei der Deutschen Dienststelle in Berlin«, sagte er.
»Da werden alle Daten von Deutschen und Nicht-Deutschen gesammelt, die während des Krieges beim Militär waren.« Er gab Victor die Adresse der WASt . »Da finden Sie die Unterlagen«, sagte er. »Viel Glück.«
Victor kletterte hinter das Steuer seines Wagens und fuhr zum Hotel.
»Du bist früh zurück.«
»Ich muss etwas trinken«, sagte Victor nervös. »Ist die Minibar gefüllt?«
»Mit allem, was ich noch nicht herausgeholt habe«, versuchte Lilly es etwas lockerer.
Victor nahm zwei kleine Wodkaflaschen aus der Minibar, goss sie in ein Glas, gab Eis und Tonic dazu und setzte sich, mit dem Rücken an der Wand, aufs Bett.
»Zu fragen, wie es war, wäre Selbstmord, vermute ich?«
Victor lachte. »Komm her«, sagte er. »Ich brauche ein paar Streicheleinheiten.«
Lilly setzte sich neben ihn, nahm ihm das Glas aus den Händen und nippte daran.
»Ich kapiere das nicht, Lilly.«
»Erzähl«, sagte sie und legte ihren Kopf in seinen Schoß.
»Albert war sechsundzwanzig als er wegging.«
»Aha.«
»Wie kann jemand in diesem Alter so gefügig sein? Wie kann man in diesem Alter Teil einer Gruppe – oder besser einer ›Truppe‹ – sein, zahm in Reih und Glied marschieren, blind gehorchen wollen? Leben und akzeptieren, dass Andere bestimmen, wie der nächste Tag aussieht?«
»Hast du die Kaserne gesehen? Den Bahnhof?«
»Ja, und Albert ist in diese Kaserne reingegangen und hat sich ausgeliefert! Ich kann es nicht fassen. Er war ein erwachsener Mann, der seine Freiheit und Selbstbestimmung aufgegeben hat. Andere Männer in seinem Alter waren damals verheiratet und hatten zwei Kinder!«
»Es war seine freie Entscheidung«, sagte Lilly.
Victor schaute sie an.
»Offensichtlich hat er in seinem Leben noch mehr freie Entscheidungen getroffen«, fuhr sie fort.
»Nein, nein, Liebes. Das kann man nicht mit dem vergleichen, was wir heute Morgen im Auto besprochen haben.« Victor schwieg. Er trank sein Glas in einem Zug leer.
»Oh doch, natürlich hat das viel damit zu tun. Albert war offensichtlich jemand, der ziemlich konsequent seinen eigenen Überzeugungen gefolgt ist, egal was das für Folgen für andere hatte. Schau, er entscheidet sich, an die Front zu gehen, und wählt eindeutig die Seite der Deutschen, ohne Rücksicht auf deine Mutter und seine Familie.
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