Schweig wenn du sprichst
Er entscheidet, dass er dem dringenden Rat seiner Ärzte nicht nachkommt, ohne Rücksicht auf deine Mutter und seine Kinder. Immerhin kannte er deine Mutter kaum, als er seine erste Entscheidung traf, aber als er die zweite traf, genauso unbeirrbar, waren sie schon gute zwanzig Jahre verheiratet.«
Victor sah sie schweigend an. Er suchte den Vorwurf in Lillys Augen, aber sie hatte einfach die Fakten aufgezählt. Beinahe emotionslos.
»Das Gleiche kannst du auch von mir sagen«, erwiderte Victor.
»So einfach kannst du die Zeiten nicht vergleichen«, sagte Lilly. »Aber deine Entscheidung, nach zwanzig Jahren eine Beziehung zu beenden, liegt tatsächlich auf derselben Linie.«
»Du bist wirklich sehr streng, Lilly.«
»Ich bin nicht streng. Realistisch vielleicht, aber darum geht es doch? Wir alle treffen in unserem Leben manchmal eine Entscheidung, aus freien Stücken, die einen großen Einfluss auf Andere hat. Auf Familie, Freunde, Kollegen, Kinder.«
Victor goss sich ein Glas Wasser ein. Er seufzte. »Ich frage mich, wie sein Leben und meines verlaufen wären, wenn er nicht weggegangen wäre«, sagte er. Er erwartete eigentlich keine Antwort.
»Ich frage mich, ob Gott existiert«, sagte Lilly.
»Jaja, irrelevant, weil nicht verifizierbar.«
»Genau«, sagte Lilly.
Victor zog sich die Schuhe aus und setzte sich auf. »Eins zu null für dich. Wo ist eigentlich Moira?«
»Draußen auf dem Balkon. Ich gebe ihr in zehn Minuten noch mal was zu essen, und dann schläft sie sicher, bis ich zurück bin.«
»Okay. Ich gehe inzwischen duschen.«
»Oh, Victor, Vicky und Titus wollen doch am Montagabend zum Essen kommen. Kannst du kochen?«
»Ich kann kochen«, sagte Victor.
»Dann rufe ich sie heute Abend noch an, dass es klappt.«
Am nächsten Morgen um neun Uhr summte sein Handy. Er sah, dass Lilly und Moira nicht im Zimmer waren. Er nahm einen Schluck Wasser aus der Flasche neben seinem Bett und stand auf. »Hallo?«
»Victor, entschuldige, dass ich dich so früh störe, aber es ist ein Notfall.«
»Oh, Mann … Bei dir ist es immer ein Notfall.«
»Ja, hör zu. Ich habe niemand anderen und es gibt eine Deadline.«
»Erzähl«, sagte Victor.
»Hast du Zeit für einen Wirtschaftstext von vierhundertfünfzig Seiten?«
»Wie viel Zeit gibst du mir?«
»Sechs Wochen.«
»Vergiss es«, sagte Victor.
»Warte, Victor. Warte. Es wird unheimlich gut bezahlt und wir können alles über das Internet abhandeln.«
»Jef, es ist Samstagmorgen. Ich bin nicht zu Hause, habe meinen Terminkalender nicht dabei und kann mich nicht mit Lilly absprechen. Sechs Wochen sind sowieso zu wenig und das Geld müsste sich dermaßen lohnen, dass du es niemals bezahlen möchtest.«
»Wie viel, Victor? Sag mir einfach wie viel, aber der Termin steht fest.«
»Äh … Sechs Wochen … Äh… viertausend Euro und keinen Cent weniger.«
»Einverstanden«, hörte er Jef sagen.
»Einverstanden? Holla! Moment mal! Wenn du das sagst, bedeutet das meistens, dass du bereit wärest, noch mehr zu bezahlen. Jef, ruf mich Montag noch mal an. Ich möchte jetzt keine Entscheidung treffen.«
»Komm schon, Victor. Ein Deal ist ein Deal.«
»Montag, Jef. Montag. Schönes Wochenende.« Victor legte auf. Er tippte Lillys Nummer ein. »Hey, danke, dass du mich hast schlafen lassen. Wo seid ihr jetzt?«
»Wir frühstücken und es geht uns gut.«
»Bist du spät ins Bett gegangen? Ich habe dich nicht hereinkommen gehört.«
»Um zwei«, sagte Lilly.
»Und war es schön?«
»Sehr schön.«
»Ich bin in zwanzig Minuten unten.«
Die Rückfahrt verlief ruhig. Moira schlief die ganze Zeit, Lilly auch. Es war schon dunkel, als er den Wagen vor der Tür parkte. Er nahm das Gepäck aus dem Kofferraum und folgte Lilly nach oben. Sie legte Moira in ihren Laufstall und nahm eine Dusche. Sie setzte sich kurz darauf mit einem kleinen Handtuch um die Hüften, ihre Haare trocknend, neben ihn auf den Teppich.
»Du siehst sexy aus«, sagte Victor und nahm sie in die Arme.
»Ich habe über deine Frage nachgedacht.«
»Welche Frage?«
»Aus welchem Grund ich Moira taufen lassen möchte.«
»Und?«
»Nun, jedenfalls nicht um ihretwillen. Denn dazu kann sie selbst ja noch gar nichts sagen. Und nur weil deine eigene Taufe dich nicht daran gehindert hat, aus der Kirche auszutreten, bin ich jetzt bei Moira noch lange nicht für die Taufe. Dass sie in dieser Frage noch nicht entscheiden kann, ist kein Grund für mich, es an ihrer Stelle zu tun. Also nicht um
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