Schweig wenn du sprichst
Erinnerung.« Victor ging mit hängenden Schultern neben Walter her, der lachend sein flottes Tempo beibehielt.
»Was ich nicht verstehe«, sagte Victor, »ist die Heimlichtuerei. Was kann mein Vater in Gottes Namen auf dem Gewissen gehabt haben, das diese gesamte Familienpantomime rechtfertigt?«
»Du musst es nicht aus Alberts Vergangenheit heraus betrachten, sondern im Hinblick auf seine Zukunft. Sonst kommst du nicht weiter.«
»Hilf mir, Walter. Sprich nicht in Rätseln.«
»Okay. Dein Vater war ein Kollaborateur. Das ist weiter nichts Schlimmes, nun ja, entschuldige die Vereinfachung, aber es gab ja wohl noch mehr davon. Er kehrt nach Hause zurück und wird festgenommen. Er wird zum Tode verurteilt, was später in lebenslänglich umgewandelt wird, und sitzt schließlich fünf Jahre im Gefängnis. Was glaubst du, kann jemand in dieser Situation nach seiner Freilassung anfangen?«
Victor verlangsamte seinen Schritt und setzte sich am Rand des Fußgängerwegs hin. Walter ließ sich neben ihn sinken. Sie starrten beide vor sich hin.
»Möchtest du das alles wirklich wissen?«, fragte Walter.
»Ich brauche eine kurze Pause. Hast du eine Zigarette?«
»Ich habe eine tolle, dicke Zigarre, wäre die auch okay?«
»Her damit«, sagte Victor.
Walter nahm das Etui aus seiner Tasche und öffnete die Klappe. Victor steckte sich die Zigarre in den Mund und zündete sie an. Walter tat dasselbe. Sie saßen schweigend nebeneinander.
»Ich glaube, du kannst noch etwas mehr als eine Zigarre gebrauchen«, sagte Walter nach einer Weile und reichte Victor einen Flachmann.
Victor nahm einen Schluck und schnappte nach Luft. »Was ist das?«, keuchte er. »Gott, Walter! Willst du mich umbringen?«
»Gut, was? Erste Hilfe bei Unfällen.«
Victor räusperte sich. »Weißt du noch, Walter«, fragte er entspannter, »wie du an einem Samstagmorgen den Zwölftonner mit offener Laderampe in der Auffahrt geparkt hast, und ich bin mit meinem ersten Gokart aus der Tiefe des Laderaums die Rampe hinuntergerast und habe beschleunigt bis runter ans Ende der Auffahrt?«
»Dein Vater hat dafür gesorgt, dass ich mich immer daran erinnern werde«, lachte Walter. »Das war wirklich nicht mein bester Tag. Aber es hat einen Heidenspaß gemacht!« Er klopfte Victor auf den Rücken und zog an seiner Zigarre. Victor sah, dass er den Moment genoss.
»Wenn ich so darüber nachdenke«, sagte Victor nach einer Weile, »dann hat er sich nach seiner Freilassung offensichtlich doch nicht so schlecht gehalten. Also, ich verstehe immer noch nicht, warum die Familie daraus so ein Geheimnis macht.«
»Albert ist mit einem Rucksack voll Schuld freigekommen. Er hatte deine Mutter sieben und dich fünf Jahre auf ihn warten lassen. Er hatte die ganze Zeit auf Kosten seiner Eltern gelebt, hatte nicht zum Familieneinkommen beigetragen und er hatte alles verloren. Als er Ende September 1949 mit seinem Koffer in der Hand die Gefängnistore hinter sich zufallen hörte, hatte er nichts, und sieben Jahre seines Lebens waren verloren. Ich hätte mich an seiner Stelle jedenfalls nicht gut gefühlt.«
Victors Zigarre war ausgegangen. Er stand auf und klopfte das Gras von seiner Hose. Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Er entfernte sich ein paar Schritte von Walter, kam zurück, ließ sich ins Gras fallen, stand wieder auf.
»Victor, ich weiß, was du jetzt fühlst.«
»Du kannst nicht fühlen, was ich fühle, Walter. Mir wird gerade klar, dass meine Mutter mich die ganze Zeit nie zu einem Besuch ins Gefängnis mitgenommen hat. Dass mein Vater und ich einander so lange nicht gesehen haben. Er war völlig allein und …« Victors Stimme versagte.
»Komm, setz dich.«
Victor setzte sich wieder zu Walter, nahm ihm den Flakon aus der Hand und trank einen Schluck. Nach einer Weile sagte er: »Du hast meiner To-do-Liste gerade ein paar Jahre Therapie hinzugefügt.«
Walter entspannte sich und lachte. Victor machte eine Pause.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum alles so unter den Teppich gekehrt wurde. Warum war es für ihn und meine Mutter so wichtig, dass seine Kollaboration und die Gefangenschaft nicht nach außen drang? Ich meine, es gab doch Tausende wie ihn.«
»Das kann schon sein, aber Tausende haben nicht versucht, nach ihrer Gefangenschaft eine Firma aufzuziehen. Er hatte Ambitionen. Er hatte eine klare Vorstellung davon, was er wollte. Aber er wusste, dass er sie wegen seiner Vergangenheit nicht so schnell verwirklichen konnte. Du darfst nicht
Weitere Kostenlose Bücher