Schweig wenn du sprichst
vergessen, dass er nach seiner Freilassung alle Rechte verloren hatte. Er war ein Niemand. Er durfte nicht wählen, konnte keine Bankkonten eröffnen, keine Verträge abschließen, auch nicht mit Arbeitern. Er konnte weder etwas mieten noch kaufen oder verkaufen. Seine Unterschrift war nichts wert. Aber er hatte sich fest vorgenommen, seine Schuld zurückzubezahlen, und ich spreche nicht nur über die finanzielle Schuld in Bezug auf seine Familie. Er hat fünf Jahre Zeit gehabt, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was er seiner Familie, Martha und dir angetan hatte. Über die Zeit, die er verloren hatte. Er war dreiunddreißig, als sein Leben anfing. Die Repression nach dem Krieg hat auch seine Familie nicht verschont. Glücklicherweise gab es Max, der viel geholfen hat. Erinnere mich daran, dass ich dir von ihm erzähle.«
»Der Mann von Tante Filomeen?«
»Genau.«
»Wie hat er denn seine Firma aufgezogen? Wie fängt man so etwas an?«
»Mit der Hilfe vieler Freunde. Er wusste, dass er alles über Leute regeln musste, die sich in ein Handelsregister eintragen lassen konnten, denen die Banken Geld leihen würden, und über Leute, die Mietverträge unterschreiben konnten.«
»Und wer waren die?«
»An erster Stelle deine Mutter. Alles war auf ihren Namen eingetragen. Anschließend mehr und mehr Verwandte, die über ihn an Arbeit im Unternehmen herankamen. Irgendwann arbeiteten mehr als sechzig Leute für ihn, darunter vier Onkel und fünf Tanten.«
»Und wer zog dabei die Fäden?«
»Er. Wie ein Kapitän auf seinem Schiff. Darüber gab es keine Diskussion. Zumindest nicht nach außen hin oder zumindest so wenig wie möglich. Sein Steuerrad befand sich unter Deck. Er fing zur Sicherheit damit an, aus Deutschland und Italien zu importieren, denn der Markt in Belgien war total abgeschottet. Nur weil nie jemand etwas über seine Kriegsvergangenheit erfuhr, konnte er das ganze Handelsnetzwerk aufbauen. Denn sein Name tauchte nirgendwo auf.«
»Verstehst du sein Verhalten?«
»Was gibt es daran zu verstehen?«
»Komm schon, Walter. Hast du nie Zweifel an seiner Entscheidung gehabt, wegzugehen, Offizier zu werden und an alldem, was damit zusammenhing?«
»Dein Vater war ein flämischer Nationalist. Er war anti-belgisch. Er war ein überzeugter Katholik und er hatte die Art, wie sein Volk behandelt wurde, satt. Und so jemandem wurde gesagt, dass er endlich etwas verändern könne. Man würde doch wohl schon für weniger in den Krieg ziehen?«
»Als er dir das alles erzählt hat, fandest du das damals sofort logisch?«
»Mit Logik hat das nichts zu tun, Victor. Wir sind nicht Albert und wir können uns nicht in ihn hineinversetzen. Ich habe deinem Vater bedingungslos vertraut.«
»Ich wünschte, das könnte ich auch«, sagte Victor.
Walter schaute auf seine Uhr. »Victor, ich fürchte, dass wir es für heute dabei belassen müssen. Ich muss um vier Uhr zur Dialyse.«
»Ich wusste nicht, dass du Nierenprobleme hast«, sagte Victor. »Ich kann dich hinbringen, wenn du möchtest. Dann reden wir im Wagen noch ein bisschen weiter. Ich bin mit meinem eigenen Wagen hier.«
»Gern. Ich muss kurz zu Hause vorbei, um meine Papiere mitzunehmen, und wenn du mich dann ins Krankenhaus bringen könntest, würdest du mir einen großen Gefallen tun.«
»Ich kann auch da auf dich warten.«
»Nein, tu das lieber nicht. Ich fühle mich danach immer schrecklich müde und möchte dann nur noch schlafen. Ich fahre anschließend mit dem Bus zurück.«
Sie gingen nebeneinander zum Haus zurück. Als Walter die letzte Kreuzung überqueren wollte, musste Victor ihn an seiner Jacke zurückziehen. Sonst wäre er unter ein Auto gelaufen, das laut hupend und mit hoher Geschwindigkeit über den Zebrastreifen fuhr.
»Verdammtes Arschloch!«, schrie Walter ihm hinterher. »Drecksstück, feige Sau!«, und er trat in der Luft dem Auto hinterher, so als wolle er einen Ball weit aus einem Stadion hinausschießen.
»Alles okay?«, fragte Victor.
»Nein, natürlich nicht alles okay!«, rief Walter dem Wagen hinterher.
»Komm schon, er ist weg und es ist nichts passiert.«
Walter überquerte wütend die Kreuzung, lief in sein Haus und kam nach einigen Minuten wieder heraus. Victor wartete am Auto auf ihn und fuhr mit Walter zum Krankenhaus.
»Geht es wieder?«
»Ich habe meine jüngste Tochter an dieser Kreuzung verloren«, sagte Walter trübsinnig.
»Oh, Walter … nein … im Ernst?«
»Sechzehn war sie. Meine Frau ist daran zugrunde
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