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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roel Verschueren
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anders gewesen?« Er wartete nicht mehr auf eine Reaktion und ging nach draußen.

16
    15. Juni 1944
    Ich habe einen Moment Ruhe, wie mir scheint zum ersten Mal, seit ich angekommen bin. Es ist jetzt still auf dem Gang. Die Soldaten schlafen, ab und zu höre ich jemanden stöhnen. Aber dann geht eine von uns schnell hin und gibt ihm etwas zu trinken.
    Ich bin dankbar für alles, was sie mir in Flandern beigebracht haben. Unsere Ausbildung rettet uns häufig, wenn wir in Schwierigkeiten sind, und die Ärzte schätzen uns. Manche tragen uns sogar auf Händen, aber das bedeutet meistens, dass sie uns noch mehr in Anspruch nehmen wollen als normalerweise. Ich zähle hinten in meinem Tagebuch die Stunden mit, die wir im Einsatz sind. Ich war letzten Monat mehr als vierhundertfünfzig Stunden auf den Beinen, bin herumgelaufen, habe Wache gehabt und aufgeräumt.
    Es fehlt an Medizin, aber wir wissen uns vorläufig noch zu helfen. Oberarzt Van de Wiele hat versprochen, dass er bei seinem Oberkommando darauf drängen wird, dass das nicht mehr vorkommt. Dieser Mann hat eine unerschöpfliche Energie.
    Gestern war für mich der allerschwerste Tag. Schwester Hilde wurde auf Urlaub geschickt, also hatten wir zu wenig Leute. Aber das konnten wir noch auffangen. Das Schlimmste war Mon. Sie brachten ihn mit halb weggeschossenem Gesicht herein. Auge weg, kein Ohr mehr auf der rechten Seite, sein Kiefer wurde zurückversetzt, hängt aber nicht vollständig an seinem Kopf fest. Mon ist neunzehn. Ich habe seinen Verband erneuert, der war völlig voller Blut und gelbem Eiter. Als ich meine Hand in seinen Nacken legte, um seinen Kopf anzuheben, flüsterte er mir etwas zu. Ich konnte durch den Speichel und den Schleim, der aus seinem Mund lief, nicht verstehen, was er sagte. Ich bat ihn, nicht zu sprechen, ruhig zu sein, aber er wiederholte das eine Wort weiter. Erst nach einigen Malen erkannte ich das Wort ›Spiegel‹. Es klang wie ›Fifel‹. Ich habe seinen Kopf näher an mein Gesicht gehoben und gesagt, dass er sich in meinen Augen betrachten könnte, wenn er das wolle. Er hat kurz sein Gesicht verzogen, fast zu einem Lächeln, und ist in meinen Armen gestorben. Es war der allerschwerste Tag. Mon war neunzehn!

17
    »Ich habe anfangs eigentlich nie verstanden, warum ihr nicht schon sofort nach seinem Ableben mit einer Wagenladung an Fragen bei mir vor der Tür gestanden habt. Ich hätte das damals sehr logisch gefunden. Aber inzwischen habe ich akzeptiert, dass es mehr mit mir als mit euch zu tun hatte.«
    »Ich glaube, ich kann dir nicht folgen«, sagte Victor und sah Walter fragend an.
    Walter wohnte ein wenig außerhalb der Stadt. Ein Mann in den Siebzigern, dynamisch und leidenschaftlich, ein Schnellsprecher. Er hatte graue kurz geschnittene Haare und pflegte seine Kleidung. Victor bemerkte, dass alles, was er trug, irgendwo ein Markenzeichen hatte. Ein Pullover mit Marco-Polo-Logo, das YSL -Logo auf seiner Krawatte, eine Burberry-Jacke an der Garderobe neben der Eingangstür, ein Regenschirm von Winterthur im Schirmständer und sogar sein Terminkalender, der vor ihm auf dem Tisch lag, trug das Logo einer Bank.
    »Schau. Dein Vater stirbt. Du weißt, wie viel er mir bedeutet hat. Ich meine, wir haben uns sehr gut gekannt. Ich habe dich aufwachsen sehen, du bist ständig in der Fabrik herumgesprungen, du kamst zum Fotokopieren oder um Papier und Kugelschreiber zu holen, Umschläge und Filzstifte zu klauen, du bist täglich ein- und ausgegangen. Und dann fällt Albert plötzlich weg und alle verschwinden. Das konnte ich damals nicht fassen. Jetzt natürlich schon. Ich meine, ich habe inzwischen auch viel gelernt.«
    »Walter, ich glaube, ich kann dir immer noch nicht folgen«, sagte Victor.
    »Warte, sag mir zuerst, ob du etwas trinken möchtest.«
    »Wenn du einen Wein offen hast, dann gerne«, sagte Victor.
    »Ich habe immer einen Wein offen.« Walter ging zur Küche. Victor lief im Zimmer umher und sah aus dem Fenster. Der Garten verlief, leicht abschüssig, von der Villa weg zu einer niedrigen Umfriedung. Er war besser in Schuss als die Wohnung. Auf der Terrasse standen zwei Plastiksitze neben einem Plastiktisch, und in der Ecke neben der Terrasse befand sich eine Hundehütte. »Wo ist dein Hund?«, fragte Victor.
    Walter kam ins Zimmer mit zwei Gläsern und einer offenen Flasche Rotwein. »Den habe ich weggegeben, als meine Frau gestorben ist«, sagte er. »Sie war die Hundeliebhaberin, ich war das nie.«
    »Woran ist sie

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