Schweig wenn du sprichst
jedenfalls guttun, kurz rauszukommen. Sobald ich Walter erreicht habe, rufe ich dich noch mal an, okay?«
»Hast du viel zu erzählen?«
»Sehr viel.«
»Dann komm schnell«, sagte Lilly.
»Ich rufe dich an. Kuss.«
Victor packte seinen Koffer, bezahlte am Empfang und versuchte, Walter zu erreichen. Noch immer der Anrufbeantworter. Er bat an der Rezeption darum, die Telefonnummer von Pavillon 7 nachzuschlagen, und bekam Oberschwester de Waele ans Telefon. »Wir geben über unsere Patienten keine Informationen heraus, mein Herr«, sagte sie höflich.
»Das respektiere ich natürlich«, sagte Victor, »aber ich sollte den Herrn gestern abholen und er war nicht am vereinbarten Ort«, log Victor.
»Warten Sie…«
»Solange wie nötig.«
Etwas später war sie zurück: »Bei der Dialyse ist ein Problem aufgetreten. Zuerst dachten wir, dass es sich um einen technischen Defekt handelt, aber später hat sich herausgestellt, dass es eine Infektion war. Er ist bei Bewusstsein und es ist alles in Ordnung, aber wir müssen noch einige Tests durchführen und er kann sicher erst nach dem Wochenende raus.«
»Aber er wird wieder gesund?«
»Mein Herr, dafür sind wir da, um Menschen gesund zu machen. Und meistens gelingt es uns auch ganz gut.«
»Entschuldigung«, sagte Victor, »so hatte ich es nicht gemeint.«
»Gern geschehen«, sagte die Krankenschwester und legte auf.
Victor verließ das Hotel, ging zu seinem Wagen und rief Lilly an. »Ich fahre jetzt los.«
»He! Super! Ist alles in Ordnung bei dir? Du klingst so bedrückt.«
»Ich bin auch bedrückt, aber das wird schon wieder. Ich erzähle dir später alles.«
»Also kommen wir ungefähr gleichzeitig bei meinen Eltern an?«
»Nun, ich brauche neun bis zehn Stunden, du fünf oder sechs.«
»Dann bis heute Abend, spät. Ich sehne mich nach dir!«
»Ich mich auch nach dir – und nach etwas Ruhe.«
Victor fuhr zum Krankenhaus, bekam aber keine Erlaubnis, Walter zu besuchen. Er schrieb ein paar Zeilen, steckte sie in einen Umschlag, den er von der Krankenschwester bekommen hatte, und bat sie, Walter den Brief zu geben. Er tankte, kaufte etwas Proviant, Zigaretten und zwei Flaschen Wasser und fuhr auf die Autobahn. Kurz vor Frankfurt steckte er im Stau.
Victor sah sich an einem festlichen, schön gedeckten Tisch sitzen. Links von ihm saß Anna, rechts seine Mutter, ihm gegenüber saß Albert und am anderen Ende noch ein Bruder und eine Schwester. Einer der wenigen Momente, in denen die ganze Familie zusammensaß. Es war Heiligabend und Victor war fünfzehn. Unter dem großen, geschmückten Baum lagen mehr Pakete denn je. Jedenfalls soweit er sich erinnern konnte. Der Plattenspieler spielte religiöse Musik, alle trugen ihre Sonntagssachen, seine Mutter war offensichtlich beim Friseur gewesen und brachte aus der Küche die Suppe an den Tisch. Das Service und das Besteck stammten aus dem besonderen Schrank in der Sonntagsstube und wurden nur an ganz besonderen Tagen, so wie diesem, benutzt. Albert sprach das Gebet und wünschte allen einen guten Appetit und ein frohes Weihnachtsfest. Anna stieß einen schrillen Schrei aus und zeigte auf den Weihnachtsbaum. Der Schmuck hatte Feuer gefangen und die Flammen fraßen sich gierig ihren Weg durch den ganzen Baum. Albert warf seinen Löffel auf den Teller, sprang auf und zog den Baum rückwärts durchs Zimmer. Er öffnete die Glastür, die auf eine kleine Terrasse führte, und schmiss den Baum mit allem, was daran hing, über die Terrasse hinweg in den Garten. Er beobachtete die Flammen einige Sekunden lang und ließ den Baum brennen. Victor hörte seine Mutter rufen: »Victor, auf dein Zimmer!«
Albert kam wieder herein, schloss die Terrassentür und die Gardinen, nahm am Tisch Platz und löffelte seine Suppe weiter. Er schrie nicht, sprach kein Wort, sah niemanden an und sagte schließlich nur erneut: »Allen einen guten Appetit und frohe Weihnachten«, und dann aß er seine Suppe.
Victor stand da, er hatte seinen Bruder und seine Schwestern angeguckt und sah, dass sein Vater etwas zu Martha sagen wollte. Er wartete und hoffte. Aber Albert schwieg. »Victor, auf dein Zimmer! Sofort!«, wiederholte Martha.
Victor stand auf, legte seine Serviette neben den Teller, unterdrückte seine Tränen und sagte: »Entschuldigung.« An der Esszimmertür schaute er noch einmal zu seinem Vater hinüber. Der hatte noch immer den Blick gesenkt. Viktor ging nach oben.
Lautes Hupen schreckte Victor auf und er sah in den
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