Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
zu erkundigen, erfuhr jedoch nur, dass Rupert und Lukas Ende September unter Ausschluss der Öffentlichkeit in Kleinbruck beigesetzt worden waren. Die Familie, oder was von ihr noch übrig war, hatte sich völlig in sich selbst zurückgezogen.
Der Gedanke an sie peinigte sie. In stillen Momenten, deren es viele gab – trotz zahlloser Termine bei Physiotherapeuten und Ärzten und ständiger Telefongespräche mit Dr. Breit wegen einem Problem mit der Presse oder einer Anfrage der Staatsanwaltschaft –, sah sie immer die kleine Annelie vor sich. Sie stellt sich den Moment auf dem Friedhof von Kleinbruck vor, das Kind vor den beiden Särgen, und jedes Mal schnürte es ihr die Kehle zu.
Das war nun also das Ergebnis, dachte sie. Die kleine Annelie hatte keinen Papa mehr. Es war vielleicht nicht das, aber es war ein Ergebnis ihrer Geschichte. Und ob sie wollte oder nicht, sie musste immer wieder an Frau Altmeier denken und an Skrowkas Frage von damals, ob man die Dinge manchmal nicht besser ruhenlassen sollte. Alles in ihr bäumte sich dagegen auf. Sie hatte nicht anders handeln können. Sie hatte auch gar keine Zeit mehr gehabt, sich diese Frage zu überlegen. Und wenn sie die Zeit gehabt hätte, so wusste sie sehr gut, dass sie alles in Bewegung gesetzt hätte, um die Wahrheit ans Licht zu bringen, das Schicksal ihres Vaters aufzuklären. Sie hätte nicht aufgehört. Aber jetzt? War ihre Seele nun weniger dunkel? War auch nur ein Gramm Schuld aus der Welt geschafft worden?
Wurde Schuld überhaupt jemals getilgt und nicht nur immer umgeladen und weitergegeben?
Die Frage ließ ihr keine Ruhe. Natürlich war sie nicht schuld an Ruperts und Lukas’ Tod. Aber die Frage blieb. Wusste die Welt jetzt mehr als vorher? Änderte es etwas, dass ein oder zwei Familien in Frankreich oder Belgien erfahren hatten, wo ein Bruder oder Onkel vor einem halben Jahrhundert ermordet worden war? Natürlich war die Wahrheit die Wahrheit. Sie war absolut. Sie musste ans Licht. Aber zu welchem Preis? Und wer bezahlte ihn? Die Verbrechen einiger alter Männer würden jetzt endlich gesühnt werden, soweit das überhaupt noch möglich war. Aber was war mit der kleinen Annelie? Selbst Konrad Dallmann kam ihr immer wieder in den Sinn. Der hatte auch eine Familie. Kinder. Sie hatte Dallmann von Anfang an nicht gemocht. Seine Handlungen hatten bewiesen, dass ihr Instinkt sie nicht getrogen hatte. Und jetzt? Nach allem, was sie über ihn gelesen hatte, war er wohl doch aus einem anderen Holz geschnitzt als sein unbelehrbarer Vater. Viel Nachsicht würde er nicht erwarten können, und dennoch blieb er bei seinem umfassenden Geständnis. Schleis brutales Attentat auf sie, der Tod von Rupert und Lukas hatten ihn offenbar zutiefst verstört, vielleicht sogar verwandelt. Wenigstens einer, der entschieden hatte, für seine Fehler zu bezahlen.
Sie starrte stundenlang aus dem Fenster, auf den winterkargen Garten, auf den Schnee und irgendwann auf die Schneeglöckchen und die ersten Krokusse. Die Nachrichten aus Faunried wurden spärlicher, und die Überraschungen blieben allmählich aus. Aus der Tagespresse war das Thema längst verschwunden, und nur durch Skrowka, der ihr über Dr. Breit regelmäßig Informationen und Berichte zukommen ließ, konnte sie verfolgen, wie das Bild über die Vorgänge und die Rolle der Beteiligten klarer wurde. Sie erhielt einen langen Brief in französischer Sprache von einer Frau Rijgmans aus Belgien, die ihr im Namen ihrer gesamten Familie aus tiefstem Herzen dafür dankte, dass sie durch sie nun endlich Gewissheit über das Schicksal ihres Bruders erlangt hatte. Sie habe ihn sehr geliebt und bis heute nicht vergessen. Er sei, kaum dreiundzwanzigjährig, in Lüttich im Sommer 1943 von der Straße weg verhaftet und nach Deutschland geschickt worden, angeblich zum Arbeitseinsatz, von dem er nie zurückkehrte. Ein Foto des jungen Mannes lag dem Brief bei. Auf der Rückseite stand:
Pour Mme Anja Grimm.
Avec toute notre gratitude
pour votre humanité
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K urz bevor sie den Ort erreichte, fuhr sie rechts ran und stieg aus. Die Julisonne war warm, dennoch fröstelte sie, als sie die Burgruine von Flossenbürg in der Ferne in den Himmel ragen sah. Recht betrachtet war der Ort vielleicht schon immer gezeichnet gewesen. Regelrecht eingesperrt und eingepfercht zwischen bewaldeten Hügeln, lag alles wie geduckt im Schatten dieser schroffen, unförmigen Burgruine. Wie eine überdimensionierte, drohende Faust ragte sie fremd,
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