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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ausgehängt hatte. Die Wände waren schwarz gestrichen. Ein größeres Zimmer diente als Tanzfläche, in den anderen befanden sich schlichte Stühle und Tische aus Holz. Überall saßen, standen und tanzten junge Männer und Frauen. Die Enge war bedrückend, und trotz geöffneter Fenster schmorten die Massen in der eigenen Hitze. Der Geruch nach verschüttetem Bier, Schweiß und Zigarettenrauch zog in dichten Schwaden durch die Räume. Ein paar nackte Glühbirnen verbreiteten Zwielicht.
    Sie suchten sich eine Ecke, möglichst weit weg vom Lärm der Tanzfläche.
    »Was für ein seltsamer Auftritt war das heute Morgen?«, fragte sie schließlich.
    »Glaubst du, sie haben es Viktor nicht abgekauft?«
    »Weiß ich nicht. Ich bin nicht sicher. Die anderen Redakteure haben sich nicht weiter darum gekümmert. Aber Michaelis? Er ist nicht dumm.«
    »Bestimmt nicht«, stimmte er bitter zu. »Das weiß ich mittlerweile sehr genau.«
    »Wie meinst du das?«, fragte sie misstrauisch. »Was ist heute Nachmittag passiert?«
    Er spürte, wie sich unter dem kleinen Tisch ihre Beine berührten. Es war keine absichtliche Geste, trotzdem fühlte er ein Kribbeln im ganzen Körper. Er wusste nicht genau, was er ihr sagen sollte; vor allem nicht, wie er es tun sollte.
    »Soll ich uns vorher etwas zu trinken holen?«, fragte er müde.
    Sie funkelte ihn unter zusammengezogenen Augenbrauen an. »Ich will endlich wissen, was los ist. Du weißt es doch, oder?«
    Er nickte. »Zum Teil.« Er holte tief Luft, suchte ihren Blick, dann erzählte er ihr, was in Leipzig vorgefallen war. Er berichtete von seinem Treffen mit Fenn in der Kuppel des Denkmals und wiederholte in knappen Sätzen das, was dieser ihm über Michaelis, Nawatzki und vor allem Sandra gesagt hatte. Er erzählte von der vorgetäuschten Auflösung des Schweigenetzes, von den Beweisen dafür, die sich in der Hand von Fenns Gruppe befanden, und von der mörderischen Jagd, die Nawatzki auf die früheren Mfs-Agenten machte. Schließlich schilderte er ihr, wie er selbst zwischen die Fronten dieses Konflikts geraten war.
    Er war überrascht, mit welcher Gefasstheit sie ihm zuhörte. Einmal, als er sagte, dass Sandra noch lebte, weiteten sich für einen Sekundenbruchteil ihre Augen, dann nickte sie, als hätte sie es die ganze Zeit über geahnt.
    Schließlich, nachdem er geendet hatte, fragte sie: »Dann wurde Sebastian wirklich von Nawatzkis Leuten ermordet?«
    »Darüber haben wir nicht gesprochen, aber es liegt doch auf der Hand, oder? Sebastian war, aus welchem Grund auch immer, misstrauisch geworden. Er kam Michaelis zumindest ansatzweise auf die Spur. Vielleicht hatte er Kontakt zu dieser Journalistin aus Leipzig.«
    Sie nickte. »Das ist anzunehmen. Sie muss ihm von ihrem Verdacht erzählt haben, er verglich das Ganze mit Details, die er hier aufgeschnappt hatte, und zog die richtigen Schlüsse.«
    »Wahrscheinlich. Aber ich glaube nicht, dass er die ganze Wahrheit wusste.«
    Sie sah ihn fest an. »Weißt du die denn?«
    »Wie meinst du das?«, fragte er überrascht.
    Sie fuhr sich mit einer nervösen Handbewegung durch ihr kurzes, blondes Haar und umfasste mit der anderen auf der Tischplatte seine Finger. Ihre Hand war eiskalt. »Alles, was du mir jetzt erzählt hast, hast du doch von diesem Mann, Fenn. Aber wie kannst du so sicher sein, dass er die Wahrheit sagt? Ebensogut könnte er lügen, vielleicht hat er all diese Menschen auf dem Gewissen. Du hast keinen einzigen Beweis für das, was er sagt.«
    »Was ist mit den Unterlagen aus der Kapelle? Den Berichten über das Schweigenetz?«
    »Zeitungsartikel, mehr nicht. Von einer Auflösung, die nie stattgefunden hat, steht dort nichts drin. Wer weiß, vielleicht hat er selbst diese Kopien dort deponiert, damit wir sie finden.«
    »Das ist doch lächerlich.«
    Sie nickte. »Ja, vielleicht. Aber es gibt etwas, dass eindeutig gegen diesen Mann spricht: Er hat für die Staatssicherheit gearbeitet. Zumindest behauptet er das. Solche Menschen lügen, ohne mit der Wimper zu zucken. Wenn er wirklich ein ausgebildeter Agent war, vielleicht sogar jemand, der im Ausland eingesetzt wurde, dann ist es ihm völlig gleichgültig, was mit uns beiden passiert. Wahrscheinlich hat er schon früher über Menschenleben entschieden, ohne dass es ihm etwas ausgemacht hätte.«
    »Das sind doch bloß Spekulationen.«
    »Begreifst du denn nicht, was ich sagen will?« Ihre Stimme klang jetzt verzweifelt. »Um uns herum wurden Menschen ermordet. Wir können

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