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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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und einfacher haben können.
    Antworten konnte er nur bekommen, wenn er weiterging, wenn er tat, was Michaelis von ihm verlangte. Mit überraschender Klarheit erkannte er plötzlich, dass er während der vergangenen Wochen kaum einen Schritt gemacht hatte, der nicht von Nawatzki, Michaelis oder sonst jemandem gesteuert worden war. Er hatte längst und unwiederbringlich die Kontrolle über sein eigenes Handeln verloren. Nun kam es auf diese letzten, wenigen Schritte auch nicht mehr an.
    Er ging weiter.
    Carsten, die Marionette.
    Die Finsternis saugte ihn wie ein gieriges Maul tiefer hinab in die Kellergewölbe. Die Gittertür war nur angelehnt. Als er dagegendrückte, öffnete sie sich mit einem langgezogenen Kreischen, das in den Ohren schmerzte. Wie Kreide auf einer Schiefertafel. Wie ein hoher, qualvoller Schrei.
    Nina!
    Aber Nina war nicht da.
    Entlang der menschenleeren Kerkerkammern ging er weiter, erreichte die Treppe, die hinab in den zweiten, tieferliegenden Keller führte. Immer wieder glaubte er Bewegungen in den Schatten zu erkennen, aber wenn er den Lichtkegel der Taschenlampe umherzucken ließ, war da nichts als Schmutz und Staub und Spinnweben. Einmal huschte ein ganzes Rudel Ratten vor ihm über den Weg.
    Schon von weitem sah er den Lichtschein, der aus der Tür des kleinen Kellerraumes fiel. Er zögerte jetzt nicht mehr. Dazu war es längst zu spät.
    In der Mitte der steinernen Kammer stand Michaelis, die Arme verschränkt, lächelnd, mit einem Sinn für Theatralik, den er ihm nicht zugetraut hatte. Sonst war niemand zu sehen. Das zuckende Licht einer Öllampe zauberte groteske Muster an Decke und Wände. Die Abdrücke der alten Zeitungsseiten waren aus der Entfernung kaum zu erkennen.
    Michaelis sagte nichts. Carsten wog seine Chancen ab. Vorspringen, zuschlagen – ihn umbringen? Vergiss es. Das schaffst du nicht. Er ist dir überlegen. Und nutzlos wäre es obendrein.
    Michaelis nickte ihm zu, blieb aber noch einen Augenblick schweigend an seinem Platz stehen. Er schien seinen Auftritt zu genießen. Ein weiterer Punkt, der Carsten überraschte. Er hätte den Redaktionsleiter anders eingeschätzt, zurückhaltender und …
    Carsten bemerkte seinen Fehler, als von hinten zwei Schatten über seine Schulter fielen. Er erwartete einen heftigen Stoß ins Kreuz, aber der Schmerz blieb aus. Zwei Männer standen plötzlich hinter ihm und versperrten mit der Masse ihrer Körper den Ausgang. Michaelis hatte ihn nur tiefer in den Raum locken wollen, ohne dass die beiden Schläger ihn dazu auffordern mussten. Offensichtlich legte er es nicht darauf an, Gewalt anzuwenden.
    Michaelis kam auf ihn zu. »Schön, dass Sie gleich hergekommen sind«, sagte er und blieb zwei Schritte vor ihm stehen. »Es war mir wichtig, Sie an einem Ort zu treffen, wo wir uns völlig ungestört unterhalten können. Ich wusste, dass Sie sich an diesen Raum erinnern würden.«
    »Was haben Sie mit Nina gemacht?«
    Michaelis lächelte. »Machen Sie sich keine Sorgen. Es geht ihr gut. Niemand hat ihr ein Haar gekrümmt.«
    Carsten ballte instinktiv die Fäuste. Er kam sich dabei sehr kindisch vor. »Wo ist sie?«
    »Nicht hier.« Michaelis trat einen Schritt zurück, fuhr mit den Fingern über die Buchstabenkolumnen an der Wand und sagte: »Ich bin nicht leicht zu faszinieren, glauben Sie mir, aber diesen Raum halte ich immer noch für ein kleines Wunder.«
    »Was wollen Sie von uns?«, fragte Carsten.
    Michaelis drehte sich wieder zu ihm um und schien ehrlich verblüfft. »Sie sprechen im Plural? Glauben Sie mir, von Nina möchte ich überhaupt nichts. Sie müssen mir glauben, dass ihr nichts geschehen wird. Was halten Sie von einem Geschäft? Sie beantworten erst meine Fragen, dann beantworte ich Ihre. Einverstanden?«
    »Was wäre die Alternative?«
    »Es gibt keine.«
    »Einverstanden.«
    Michaelis grinste. »Meine erste Frage lautet: Mit wem haben Sie sich in Thale getroffen?«
    Carsten überlegte. Es hatte keinen Sinn mehr, das Treffen zu leugnen. »Der Mann nannte sich Fenn«, sagte er widerstrebend.
    Michaelis nickte zufrieden, als hätte er nichts anderes erwartet. »Damit kann ich mir die nächste Frage sparen. Sie hätte gelautet, über was Sie gesprochen haben. Aber ich schätze, ich kenne die Antwort. Er hat Ihnen von uns erzählt, nicht wahr? Vom Netz.«
    Carsten nickte zögernd.
    »Dann hat er Ihnen auch gesagt, wer er ist?«
    »Ein Agent.«
    Michaelis lachte. »Ein Agent? Leider kein Punkt. Fenn ist kein Agent. Vielleicht

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