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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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könntest vor ihm davonlaufen? Verdammt, Niklas, du weißt ebenso gut wie ich, dass …«
    »Ich will nicht weglaufen«, unterbrach er sie sanft. »Ich will einfach ein Leben führen wie jeder andere auch. Sonst nichts.«
    »Das ist unmöglich, und das weißt du.«
    Er zuckte mit den Schultern. Er war sich bewusst, wie wenig Sinn das hatte, was er da sagte. Er durfte Nadine nicht mit hineinziehen. Außerdem war es noch nicht so weit. Noch befand er sich mitten in einem Auftrag, den er zu Ende führen musste.
    »Du kannst nicht …«, begann sie, aber er unterbrach sie erneut.
    »Woher wusstest du, dass ich telefoniert habe?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
    Sie schüttelte wieder den Kopf, als könne sie damit die Angst um ihn aus ihren Gedanken vertreiben.
    »Nawatzki hat versucht, dich anzurufen. Es war besetzt, da hat er mit mir gesprochen. Deshalb bin ich rübergekommen. Er war sauer. Keine Privatgespräche, das weißt du genau!«
    »Was wollte er?«
    Sie lächelte zaghaft. »Er hat uns zu einer Reise eingeladen. Nur uns beide.«
    »Wie romantisch. Wohin?«
    »Nach Prag. Heute noch. Rochus, Tomas und Alexander bleiben hier.«
    »Mitten in der Nacht?«, fragte er erstaunt. Vielleicht bedeutete das, dass es bald vorbei sein würde.
    Sie nickte. »Die beiden anderen wissen schon Bescheid.«
    »Wann brechen wir auf?«
    »Sofort. Aber es gibt noch jemanden, um den wir uns vorher kümmern müssen.«
    »Um wen?«
    Nadine stand auf. »Sie wird dir gefallen.«
    Ihre Stimme, ihr Lächeln.
    Mal bezaubernd, mal tödlich.
    Der erste Mai fiel auf einen Sonntag. Als Carsten am nächsten Morgen gegen halb zwölf die Redaktion betrat, saßen die meisten bereits an ihren Plätzen, telefonierten, lasen die Sonntagsblätter oder schimpften über zu wenig freie Tage.
    Nina war nicht da.
    Ihr Platz war leer, keine Jacke hing über der Stuhllehne.
    Er spürte, wie Panik in ihm aufstieg, schlagartig, fast schmerzhaft.
    Vielleicht war sie bei Michaelis. Die Bürotür war geschlossen. Möglicherweise hatte sie verschlafen. Vielleicht …
    »Wo haben Sie Ihre Freundin gelassen?«, rief Ehrlicher quer durch den ganzen Raum. Einige Köpfe wandten sich ihm zu. Der eine oder andere grinste.
    Carsten schluckte. »Sie ist noch nicht hier?« Er hatte das Gefühl, als müsse er an jedem einzelnen Wort ersticken.
    Kopfschütteln.
    »Ist spät geworden, was?«, fragte Ehrlicher.
    Carsten gab keine Antwort. Alles um ihn herum begann sich zu drehen. Er trat an seinen Schreibtisch, warf seine Tasche auf den Boden und stützte sich auf die Tischkante. Nach dem Gespräch mit Fenn waren sie noch eine Stunde auf dem Hexentanzplatz geblieben, um keinen Verdacht zu erregen. Um kurz nach zwei hatte er sie zu Hause abgesetzt, weil sie darauf bestanden hatte. Seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen.
    Auf seinem Schreibtisch lag ein Briefumschlag. Die Verschlussklappe war nur eingesteckt. Mit zitternden Händen öffnete er sie und zog einen gefalteten Zettel hervor. Einen Moment lang erwartete er, eine neue Botschaft von Sandra vorzufinden. Aber es war nicht Sandras Handschrift.
    Bitte seien Sie so freundlich, stand da in blauen Tintenlettern, und kommen Sie unverzüglich in den Keller. Sie wissen, wohin. Alles Weitere dort. – Michaelis.
    Er ließ den Zettel auf den Schreibtisch fallen und wandte sich an den nächstbesten Redakteur.
    »Wo ist Michaelis?«, fragte er.
    »Hat freigenommen«, kam die Antwort. »Die ganze Woche, soweit ich weiß.«
    Carsten fuhr herum und stürmte ohne ein weiteres Wort hinaus in die Eingangshalle, jemand rief etwas hinter ihm her, ein anderer lachte, dann hatte er die Tür hinter sich zugeworfen und war draußen. Steinberg, der alte Wachmann, warf ihm einen erstaunten Blick zu.
    »Ist irgendwas passiert?«, fragte er.
    Carsten schüttelte den Kopf, sprang ohne eine weitere Erklärung über die Absperrung und stürmte den Gang neben der verfallenen Freitreppe entlang. Die menschenleeren Korridore, Fluchten und Treppen schienen sich ins Unendliche zu dehnen. Er hatte das Gefühl, als brauche er eine halbe Ewigkeit, bis er endlich die Gittertür zu den alten Verliesen erreichte. An ihrem Fuß lag eine Taschenlampe. Ein eisiger Luftzug wehte ihm entgegen, vermischt mit dem Geruch von Moder und Feuchtigkeit.
    Einen Augenblick lang vertrieb die Vernunft das Wirrwarr in seinen Gedanken. Er blieb stehen. Was war, wenn sie ihn nur hier heruntergelockt hatten, um ihn ungestört umzubringen? Unsinn. Das hätten sie schon früher

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