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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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wissen, was in dieser Seilbahn vorgefallen ist. Und vor allem, ob überhaupt etwas vorgefallen ist.«
    »Trotzdem hätte dieser Ausflug verhindert werden müssen«, sagte von Heiden unbeeindruckt. »Allein die Möglichkeit, dass ein Kontakt stattgefunden haben könnte, ist eine Katastrophe.«
    »Was schlagen Sie demnach vor?«, fragte Michaelis.
    »Die Frage ist, können wir Worthmann noch trauen?«, meinte Nawatzki. »Weiß er nicht längst, warum wir ihn nach Tiefental geschickt haben? Und wichtiger noch: Weiß er, mit wem er es zu tun hat?«
    »Sollte es einen Kontakt gegeben haben, lautet die Antwort auf alle drei Fragen ja«, sagte Michaelis. Es hatte keinen Sinn mehr zu versuchen, sich herauszureden. Zu viel hing von dieser simplen Fragestellung ab.
    »Demnach wären wir gezwungen, ihn zu liquidieren«, sagte von Heiden.
    Wieder herrschte in Nawatzkis Leitung Stille. So lange, dass Michaelis bereits befürchtete, die Verbindung sei zusammengebrochen. Dann meldete Nawatzki sich erneut zu Wort.
    »Ich möchte kein Risiko eingehen«, sagte er. »Bevor wir nicht sicher sind, dass das Treffen in Prag tatsächlich stattfindet, könnte Worthmann uns noch nützlich sein. Letztlich kann er uns nicht schaden. Er wird nicht zur Polizei gehen.«
    »Und wenn er es doch tut?«, fragte von Heiden.
    »Sinnlos. Er würde uns damit nur einen Gefallen tun. Wir wären zumindest sicher, dass er etwas weiß.«
    Michaelis dachte einen Augenblick nach. »Es gibt eine Alternative«, sagte er dann, »eine Möglichkeit, die Angelegenheit Carsten Worthmann sinnvoll zu beenden und gleichzeitig Nutzen daraus zu ziehen.«
    »Tatsächlich?«, meinte von Heiden. Es klang nicht überzeugt.
    Nawatzki schwieg und hörte zu.
    Michaelis warf einen Blick auf Tafuri. Der Italiener hatte sein Gesicht zu einem wissenden Lächeln verzogen, so, als sei er schon viel früher auf dieselbe Idee gekommen. Michaelis ließ sich nicht davon beirren.
    Langsam und präzise erläuterte er seinen Plan.
    Niklas saß allein im Hotelzimmer, hielt mit der einen Hand den Telefonhörer und wählte mit der anderen seine Bonner Nummer. Außen an der Fassade kroch der Lärm der Leipziger Innenstadt herauf und quoll über die Brüstung ins Zimmer. Selbst bei Nacht war der Verkehrsfluss ungebrochen.
    Er war froh, dass Gabi abnahm und nicht eines der Kinder. Es war schon genug, seine Frau anlügen zu müssen; bei Fabian und Susi hätte er sich doppelt schuldig gefühlt.
    »Wie geht's dir?«, fragte sie. Ihre Stimme klang niedergeschlagen.
    »Ganz gut«, sagte er, ärgerlich, dass ihm nichts einfiel, das überzeugender klang. »Was tust du gerade?«
    »Ein paar Arbeiten der sechsten Klasse kontrollieren. Ich habe schon zwei Rotstifte verschlissen.«
    »Sei nicht so streng.« Er stellte sich das vertraute Bild vor, wie Gabi fluchend über Bergen von Arbeitsheften saß, und lächelte. Die Erinnerung an zuhause brachte eine wohlige Wärme mit sich, etwas, das er erst seit ein paar Jahren kannte. Du wirst alt, dachte er. »Was macht das Manöver?«, fragte sie.
    »Kein Manöver. Nur eine Reservistenübung. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, tagein, tagaus durch kniehohen Schlamm zu robben? Das macht das Manöver …«
    Sie kicherte bei der Vorstellung. Dann wich ihre freundschaftliche Schadenfreude einem ernsteren Tonfall. »Wann kommst du zurück? Die Kinder fragen jeden Tag nach dir. Na ja, Fabian fragt. Susi hat genug mit ihren Verehrern zu tun.«
    Niklas vermisste Gabi und die Kinder von Tag zu Tag mehr, und als er antwortete, war es ihm, als entfernte er sich dadurch nur noch weiter von ihnen. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Wir hoffen alle, dass es nächste Woche vorbei ist.«
    »Großer Gott, Niklas, es sind schon zwei Wochen!« Ihre Stimme klang nicht gut. Erst traurig, dann wütend. »Können sie euch nicht wenigstens sagen, wann das alles vorüber ist?«
    Er sah in den Spiegel auf der anderen Seite des Zimmers und fand sich erbärmlich. Da saß er auf einem fremden Hotelbett, einen angeklebten Bart an Wangen und Kinn, maskiert mit falschen Augenbrauen und gefärbtem Haar, und tischte der Frau, die er liebte, eine Lüge nach der anderen auf. Dann wandte er sich ab und starrte auf die leere Wand.
    »Tut mir leid«, sagte er leise. »Man sagt uns hier gar nichts. Das gehört dazu. Ich hab das damals gewusst, als ich mich meldete. Und du wusstest es, als wir geheiratet haben.«
    Sie schwieg einen Moment. Er hörte ihr leises Atmen durch das Rauschen der Leitung.

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