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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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verschaffen. Und einige, weil man ihnen gedroht hatte. Vielleicht hatte man Nina Versprechungen gemacht. Er hätte an ihrer Stelle möglicherweise genauso gehandelt. Als ob sich nur ein Einziger von der Verlockung freisprechen konnte, die ein paar Notizen im Tausch gegen Privilegien bedeuteten.
    Aber da waren die Zweifel. Er fühlte, dass er sich vor dem Treffen mit ihr fürchtete. Welchen Sinn hätte es für Michaelis gehabt, ihn und Nina auseinanderzubringen, sein Vertrauen in sie zu erschüttern? Die Antwort darauf war nicht schwer. Er wollte seinen Widerstand brechen, auf die eine oder andere Weise. Die Eröffnung über Ninas Vergangenheit – wahr oder erlogen – hatte ihn verunsichert. Keine neue Strategie. Raub deinem Gegner jeden Halt in den eigenen Reihen, und er wird selbst zum Verräter. Und war nicht genau das eingetreten? War er nicht selbst hier in Prag, um Fenn und die anderen (Sandra?) ans Netz auszuliefern? Großer Gott, er würde ein halbes Dutzend Menschen auf dem Gewissen haben, vielleicht noch mehr, ohne dass er sich ein einziges Mal dagegen gewehrt hatte!
    Der plötzliche Gedanke stürzte ihn in heilloses Entsetzen. Sie hatten ihn so weit bekommen, ohne dass er auch nur den Versuch gemacht hatte, Widerstand zu leisten. Das war der Grund, warum Michaelis ihm diese Dinge über Nina erzählt hatte! Und er war blindlings in die Falle gerannt.
    Einen Moment lang überdachte er seine Chancen, aus dem fahrenden Auto zu springen und zu fliehen. Sinnlos. Er würde sich den Hals brechen. Zudem sah der Mann neben ihm nicht aus, als würde er ihn auch nur bis zum Türgriff kommen lassen.
    Vergiss es! Warte ab, bis du bei Nina bist, und entscheide dann, was zu tun ist.
    Der Wagen steuerte durch schmale Seitenstraßen tiefer ins Stadtzentrum. In einiger Entfernung sah er den Hradschin über den Dächern thronen wie einen steinernen Götzen. Die Türme und Dächer der Burg erschienen ihm düster und bedrohlich. Er hätte niemals hierherkommen dürfen.
    Sie hielten vor einem alten Haus, das sich durch nichts von den anderen des Viertels unterschied. Dunkle, rissige Fassade, blinde Fenster, keine Aufschrift oder Klingelschilder. Auf der Straße roch es nach gekochtem Kohl. Die beiden Männer führten ihn durch einen schmalen Gang ins Treppenhaus und von dort in den zweiten Stock. Sie hielten vor einer Tür am Ende eines düsteren Korridors. Der Schlüssel steckte. Einer der Männer drehte ihn herum und öffnete.
    »Hier hinein, bitte«, sagte er.
    Carsten folgte der Anweisung und trat ein. Die Männer blieben draußen und zogen die Tür zu. Er hörte, wie der Schlüssel zweimal herumgedreht und abgezogen wurde. Dann entfernten sich ihre Schritte.
    Nina hockte auf einer Matratze am Boden. Sie hatte geweint und sah ihn aus geröteten Augen an. Ihr helles Sweatshirt war voll dunkler Flecken. Einen Augenblick lang dachte er, es sei Blut, aber dann bemerkte er die zersprungene Kaffeekanne und das sternförmige Muster, das sie an der Wand hinterlassen hatte. Nina musste sie in ihrer Wut dagegen geschleudert haben.
    Sie stand nicht auf, als er auf sie zuging.
    »Sie haben es dir gesagt, nicht wahr?«, fragte sie mit tonloser Stimme. Die Worte waren so leise, dass er Mühe hatte, sie zu verstehen.
    »Ja.« Er war nicht mehr wütend. Nur noch müde. Müde und enttäuscht.
    »Glaubst du ihnen?«
    Er setzte sich neben sie und ergriff ihre Hand. Einen Moment lang überlegte er, ob es gut sei, wenn sie jetzt weiterreden würden. Es musste wohl sein.
    »Ich weiß nicht«, sagte er. »Sag du mir, ob es die Wahrheit ist.«
    Sie schloss für mehrere Sekunden die Augen. Unter den Rändern glitzerte es. Als sie die Lider wieder hob, rollten zwei Tränen über ihre Wangen.
    »Sie haben mir gesagt, sie hätten meine Akte«, flüsterte sie. »Sie haben sie dir gezeigt, oder? Wie soll ich es da abstreiten.«
    Er schüttelte den Kopf. »Es interessiert mich nicht, ob du für die Stasi Berichte geschrieben hast; es ist mir gleichgültig.« Seine Finger schlossen sich fester um ihre Hand. »Ich will nur wissen, was mit mir ist.«
    Ihre Blicke trafen sich. Verwunderung blitzte in Ninas Augen.
    »Was meinst du?«, fragte sie.
    Dass sie sich ahnungslos stellte, machte ihn wütend. »Du hast mich bespitzelt. Für Michaelis.«
    Sie zuckte zurück, als hätte er sie mitten ins Gesicht geschlagen. »Sagen sie das? Großer Gott, ist es das, was sie sagen?«
    Er sprang auf und ging mit zwei großen Schritten zum Fenster. Er spürte, wie die

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