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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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und robbte hindurch. Ein weiterer Schuss zerriss die Stille. Die Kugel zischte hinter ihm den Gang entlang, doch da war er schon in Sicherheit. Zumindest für den Augenblick.
    Wieder Schritte, die ihm folgten. Viktor sah sich um. Der Raum, in dem er sich befand, war nicht allzu groß. An seiner Rückseite gab es eine geschlossene Tür. Wenn er seiner Orientierung noch trauen konnte, musste es sich dabei um einen zweiten Zugang zum Überwachungsraum des Beobachters handeln.
    Gleich davor, mitten im Raum, stand eine schwarze, formlose Masse. In der Eile konnte er nicht erkennen, um was es sich handelte, er hatte jetzt keine Zeit, es sich näher anzusehen. Einige Meter neben ihm zeichneten sich in der Dunkelheit die Umrisse eines Fensters ab. Es konnte nicht zur Außenwand gehören, dafür befand er sich viel zu tief im Inneren des Gebäudes. Das Fenster musste hinaus auf einen Innenhof führen.
    Ein Sprung wäre Wahnsinn gewesen. Nicht aus dem dritten Stock. Vielleicht aber gab es eine andere Möglichkeit.
    Er rappelte sich auf. Die Schritte waren jetzt nur noch wenige Meter entfernt. Er packte die Tür und warf sie zu. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass das Schloss nicht eingerostet war. Der Schlüssel klemmte ein wenig, ließ sich aber drehen. Zumindest für einen Moment würde das seinen Gegner aufhalten.
    Er überquerte die Distanz bis zur rückwärtigen Tür mit wenigen riesigen Schritten. Sie war verschlossen, wie erwartet. Der Streifschuss an seiner Hüfte schmerzte höllisch. Warmes Blut lief an seinem Bein hinunter. He, dachte er, du bist zweiundsechzig und lebst noch immer. Nicht schlecht, mein Junge!
    Als er sich zum Fenster umwandte, fiel sein Blick erneut auf das große schwarze Etwas, und diesmal erkannte er, was es war. Ein riesiger Tisch mit unregelmäßiger, buckliger Oberfläche, die jemand mit einem farblosen Laken abgedeckt hatte.
    Er zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann siegte seine Neugier. Mit einem einzigen Ruck zog er das Tuch herunter – und wusste mit einem Mal nicht mehr, ob er lachen oder irre werden sollte.
    Der Tisch war bedeckt mit einer filigranen Miniaturlandschaft. Hügel, Wälder, Flüsse, ja, sogar kleine Ortschaften breiteten sich vor ihm aus. In weiten Schleifen und engen Kurven schlängelten sich die Gleise einer Modellbaueisenbahn über die gesamte Platte. Viktor schüttelte ungläubig den Kopf. Konnte es sein, dass der Mann, der jeden Augenblick mit einer Pistole in den Raum stürmen, der Mann, der ihn auf der Stelle umbringen würde, dass eben dieser Mann die endlosen Stunden im Westflügel der Ruine mit dem Aufbau einer Modelleisenbahn verbrachte? Plötzlich konnte er nicht anders: Viktor warf den Kopf in den Nacken und lachte. Lachte, wie er es lange nicht mehr getan hatte, ein lautes, fast hysterisches Brüllen, das im ganzen Gebäude zu hören sein musste.
    Hinter ihm krachten zwei Kugeln durch die Tür. Viktor verstummte. Der Beobachter versuchte, das Schloss aufzuschießen. Viktor legte die letzten Schritte bis zum Fenster zurück und riss am Griff. Die Scheibe schwenkte nach innen. Kalte Nachtluft wehte ihm entgegen. Er sah hinaus und entdeckte einen schmalen Steinsims, etwa einen Meter unterhalb des Fensterbrettes. Der Boden des Innenhofes lag in völliger Dunkelheit.
    Wieder Schüsse. Das Schloss würde nur noch Sekunden standhalten.
    Er kletterte hinaus und setzte vorsichtig beide Füße auf den Sims. Wenn es ihm gelang, über die Außenwand bis zum nächsten Fenster zu kommen, hatte er noch eine Chance. Der Versuch war besser, als tatenlos seinen Tod abzuwarten. Zügig und doch so vorsichtig wie möglich, setzte er einen Fuß neben den anderen. Langsam kam er vorwärts. Er schob den Gedanken an das morsche Mauerwerk weit von sich. Keine Zeit, alle Gefahren zu überdenken.
    Er hörte, wie die Tür aufflog. Noch drei Meter bis zum nächsten Fenster. Endlos. Schneller, schneller. Noch zwei Meter.
    Der Kopf des Beobachters schob sich als dunkler Umriss aus dem Fenster, gefolgt von seiner Hand, die die Pistole hielt. Ein einsamer Strahl Mondlicht brach sich als blitzender Reflex auf dem silbernen Stahl. Viktor riss seine eigene Waffe hoch, aber die plötzliche Bewegung brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Instinktiv fassten seine Hände nach Halt. Die Finger seiner Rechten lösten sich vom Griff der Waffe. Seine Pistole stürzte in die Tiefe und schlug mit einem metallischen Laut am Boden auf.
    Das war's, dachte er. Völlig hilflos klebte er an der

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