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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Fassade. Er konnte den Beobachter jetzt sehen. Ein riesiger Kerl mit dunklem Haar, vielleicht ein Südländer. Spanier oder Italiener. Der Mann schob sich weiter aus dem Fenster und zielte. Viktor konnte direkt in die Mündung blicken.
    Der Beobachter lächelte.
    Ein Schuss peitschte durch die Finsternis.
    Viktor wartete auf den Einschlag in seinem Körper, aber er kam nicht. Stattdessen beugte sich der Beobachter langsam nach vorne. Sein Kopf hatte mit einem Mal eine seltsame Form, als hätte ein Messer die obere Hälfte glatt abgesäbelt. Seine Finger lösten sich von der Pistole. Sie fiel und gesellte sich am Grund des Hofes zu Viktors Waffe. Der Mann beugte sich immer weiter aus dem Fenster, fast wie in einer ehrfürchtigen Verneigung, dann verlor er endgültig den Halt und stürzte. Vorwärts in die Tiefe. Hinab in die Dunkelheit.
    Viktor stand zitternd und verkrampft auf dem Sims und starrte nach unten. Dort bewegte sich etwas.
    »Glück gehabt«, rief eine Stimme, die er kannte, aber nicht einordnen konnte. »Kommen Sie runter.«
    Viktor nickte, brachte aber keinen Ton hervor. Sein Herz schlug wie eine Pumpstation. Ganz langsam schob er sich zurück zum Fenster, aus dem er gekommen war. Vom oberen Rahmen tropfte etwas herunter. Schräg darüber klebten Blut und Hirnmasse an der Decke.
    Bevor er sich endgültig ins Innere schwang, beugte er sich noch einmal vor. »Wer sind Sie?«, fragte er die schwarze Gestalt unten im Hof.
    »Steinberg«, kam die Antwort. »Ich bin Wachmann hier im Haus.«
    Viktor eilte durch das Zimmer, den Gang und mehrere Treppen hinunter, bis er im Erdgeschoss eine Tür fand, die hinaus auf den Hof führte.
    Steinberg stand über der Leiche des Beobachters und lächelte unsicher. »Ich bin so etwas nicht gewöhnt, wissen Sie«, sagte er.
    Viktor sah erst ihn, dann die Leiche an. Er spürte, wie seine Vernunft langsam, aber sicher wieder Herr über das Wirrwarr in seinem Schädel wurde. Der Tote sah aus wie eine verknotete Marionette. Hätte ihn nicht bereits die Kugel des Wachmanns getötet, wäre er an den Folgen des Sturzes gestorben. Seine Glieder waren unnatürlich abgewinkelt, sein Hinterkopf berührte die Schulterblätter. Die Pathologen würden Mühe haben, noch einen einzigen heilen Knochen in diesem Körper zu finden.
    »Ich … ich habe Schüsse gehört«, erklärte der Wachmann. Viktor schätzte, dass sie etwa im gleichen Alter waren. »Ich bin wie ein aufgescheuchtes Huhn durchs Haus gelaufen und habe nach der Ursache gesucht.«
    »Die haben Sie zweifellos gefunden«, sagte Viktor.
    »Sieht so aus.« Steinberg hielt immer noch seine Pistole in der Hand, als wüsste er nicht, wohin damit.
    »Jetzt möchten Sie wahrscheinlich wissen, was hier passiert ist, oder?«, fragte Viktor.
    Steinberg schüttelte den Kopf. »Nicht nötig.«
    Viktor zuckte mit den Schultern. »Die Polizei wird sicher gleich eintreffen.« Er überlegte fieberhaft, was er den Beamten erzählen würde.
    »Ich habe keine Polizei gerufen«, sagte der Wachmann.
    Viktor sah ihn verwirrt an. »Nicht?«
    »Nein.«
    Steinberg hob seine Waffe und schoss Viktor mitten ins Gesicht.

Kapitel 3
    Im Labyrinth der Korridore und Hallen des alten Klosters hatte Carsten bald jede Orientierung verloren. Fenn und seine Leute führten sie über triste Flure, vorbei an Kammern und Gebetsstuben, in denen Mönche schweigend vor Kreuzen und Heiligenbildern knieten. Immer wieder kamen sie durch große, schmucklose Säle und ehrwürdige, dunkle Hallen.
    Beim Eintritt in das Gebäude hatten Nawatzkis Männer ihre Waffen gezogen. Carsten hatte es eher gehört als gesehen. Immer noch zwang ihn die Pistole an seiner Schläfe stur geradeaus zu schauen. Fenn schien die unausgesprochene Drohung nicht zu stören. Weder er noch einer der anderen aus seiner Gruppe trug eine Waffe – zumindest nicht offen.
    Nach einigen Minuten erreichten sie einen Kreuzgang mit Säulen aus braunem Sandstein. Er umschloss einen kleinen Garten, penibel bepflanzt mit Sträuchern und zahllosen Blumen. In der Mitte standen mehrere Stühle auf einer Rasenfläche. Über ihnen wölbte sich der tiefschwarze Nachthimmel.
    Die beiden Gruppen betraten den Rasen. Fenn und der Älteste seiner Leute setzten sich, ihnen gegenüber nahmen Nawatzki und von Heiden Platz. Carsten und Nina wurden von ihren beiden Bewachern an die Stirnseite des Gartens geführt, wo man sie anwies, sich auf den Boden zu knien. Der Mann und die Frau blieben hinter ihnen stehen, die Waffen weiterhin

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