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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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gebückt zur nächstbesten Tür und verschwand im Inneren des Klosters. Niemand konnte ihn aufhalten.
    Carsten und Nina stolperten auf die Füße. Nur wenige Schritte neben ihnen führte ein offener Durchgang in einen langen Korridor. Hinter ihnen versank der Hof in einen Tumult aus Schüssen, Schreien und Wolken aus Pulverdampf, die wie grauer Morgennebel über dem Rasen hingen. Sie sahen nicht mehr, was mit Fenn und den anderen geschah. Stattdessen rannten sie so schnell sie konnten ins Gebäude.
    Gleich neben Carstens Schulter riss eine Kugel ein Stück Mauer aus der Wand, groß wie ein Fußball. Gesteinsbrocken spritzten wie Wasser in alle Richtungen. Ein scharfer Splitter schnitt eine rote Spur in Ninas Wange. Der plötzliche Schmerz ließ sie aufschreien, trotzdem rannte sie weiter, erreichte die Tür noch vor Carsten und sprang ins Innere. Er folgte ihr nur einen Augenblick später. Gemeinsam spurteten sie den Korridor hinunter, wenige Meter bis zur nächsten Kreuzung und von dort nach rechts, irgendwohin, einfach nur fort vom Töten und Sterben draußen im Garten.
    Sie folgten einem weiteren Gang, der vor einem hohen, zweiflügeligen Tor endete. Carsten betete, dass es nicht abgeschlossen war. Er warf sich auf die Klinke, und der rechte Flügel schwang knirschend nach innen. Nina huschte hindurch. Er selbst stolperte hinterher, warf das Tor hinter sich zu und ließ sich neben ihr mit dem Rücken gegen das kühle Holz sinken.
    Einatmen, ausatmen.
    Er spürte, wie sein Puls raste. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor so schnell gelaufen zu sein. Nina hatte die Augen geschlossen und keuchte ebenso laut wie er selbst. Panik und Erschöpfung brachten beide nahe an einen Zusammenbruch.
    Als er sich nach einer scheinbaren Ewigkeit umblickte, sah er, dass sie sich in einer Kirche befanden. Sie musste zu einem der drei Glockentürme gehören, die er bei ihrer Ankunft im Nachthimmel über dem Kloster gesehen hatte. Das Kirchenschiff reichte nicht allzu weit in die Tiefe, höchstens dreißig, fünfunddreißig Meter, aber das diffuse Dämmerlicht ließ es größer erscheinen. Dunkle Schatten hingen bedrohlich wie riesige Spinnweben in den Ecken und an Säulen und Bänken. Es war kühl, und der Lärm des Gefechtsfeuers hallte zwischen den hohen Wänden wider. Carsten nahm an, dass Nawatzkis Nachhut mittlerweile das Kloster stürmte und von allen Seiten in das Gebäude einfiel.
    »Wohin?«, fragte Nina. Angst flimmerte in ihren Augen.
    Carstens Herz hämmerte im Rhythmus eines Maschinengewehrs. Er zuckte mit den Schultern. »Wir müssen uns verstecken«, flüsterte er. »Irgendwo.«
    Gehetzt blickte er sich um und horchte auf Schritte hinter der Tür, doch niemand schien sie zu verfolgen.
    »Komm«, sagte er und ging los. Nina folgte ihm den Mittelgang entlang. Irgendwo vor ihnen in der Dunkelheit sahen sie die Umrisse des Altars. Dahinter hing ein gewaltiges Triptychon, sein Motiv war in den Schatten nicht zu erkennen. Weiter oben gab es ein buntes, kreisrundes Fenster, das in unregelmäßigen Abständen aufleuchtete. Auch dort draußen wurde jetzt geschossen.
    Plötzlich registrierte Carsten am Rande seines Blickfeldes eine Bewegung, hörte ein Geräusch. Er hielt Nina am Arm zurück, sah sich um – und erstarrte.
    Ihre beiden Bewacher stolperten aus einer Seitentür; beide atmeten schwer und waren bewaffnet. Die rothaarige Frau schlug die Tür hinter sich zu. Der Mann war verletzt. Er presste seine linke Hand gegen den rechten Oberarm, dunkles Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor. Seine Rechte hielt immer noch die Pistole.
    Carsten wollte Nina mit sich zu Boden reißen, doch die Frau hatte sie bereits entdeckt.
    »Stehen bleiben!«, rief sie. Ihre Pistole deutete drohend in ihre Richtung. Langsam kamen die beiden auf sie zu. Auch der Mann hob unter Schmerzen seine Waffe. Er zitterte und sah aus, als wolle er dem allen so schnell wie möglich ein Ende machen. Carsten befürchtete, er könnte jeden Moment abdrücken.
    Als sie nur noch wenige Meter voneinander trennten, peitschte ein Schuss durch das Kirchenschiff. Ein rotes Loch erblühte in der Stirn des Mannes, sein Körper wurde zurückgeschleudert, krachte gegen eine Holzbank und blieb liegen.
    »Niklas!« Der Schrei der Frau klang hoch und hell und voller Panik. Der Name des Toten hallte gellend durch die Kirche, immer und immer wieder; als wäre es sein Geist, der versuchte, aus den Mauern zu entkommen. Einen Augenblick lang sah es aus, als würde

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