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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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war sein Blick auf die geschwungenen Buchstaben so verschwommen, dass er für eine Weile mit dem Sortieren aufhören musste und versuchte, seinen Kopf durch eine eiskalte Dusche wieder klar zu bekommen.
    Gegen halb elf hatte er die Briefe endlich in der richtigen Reihenfolge. In seinem Kopf regierte das Chaos. Sandras Gesicht, ihr Lachen und eine Unzahl von Dingen, die sie vor Jahren zu ihm gesagt hatte, waren alles, woran er denken konnte. Mit einem Mal fand er sein Detektivspiel albern und lächerlich. Sandra war tot, großer Gott, und was kümmerte es ihn, wer diese Briefe geschrieben hatte?
    Am frühen Nachmittag hatte er sich so weit in der Gewalt, dass er die Briefe zusammenpacken und mit ihnen hinunter zum Auto gehen konnte. Es gab ein Versprechen, das er einhalten musste.
    Keine zwei Stunden später stoppte er den Golf vor dem Haus in der Leipziger Innenstadt, in dem Sven Kirchhoff wohnte. Die Briefe lagen auf dem Beifahrersitz, im gleichen Karton, in dem Elisabeth sie verpackt hatte. Carsten holte einmal tief Luft, beide Hände fest ums Steuer gekrallt, dann klemmte er sich das Päckchen unter den Arm und stieg aus. Die Toilettentür im Treppenhaus war heute geschlossen.
    Kirchhoff gab keine Antwort, als er an der Wohnungstür klopfte. Auch ein zweiter und dritter Versuch blieben erfolglos. Niemand zu Hause. Wieder eine nutzlose, stundenlange Fahrt. Carsten hatte kein Bedürfnis, die Strecke ein weiteres Mal zu fahren. Er würde Kirchhoff am Montag telegrafieren, er solle nach Tiefental kommen und sich die Briefe dort ansehen. Er selbst war ohnehin längst überzeugt, dass die Handschrift auch nach Juni 1985 die gleiche blieb. Sandras Witwer würde keinen Unterschied bemerken.
    Als er die Treppen hinunterstieg, öffnete sich die Tür der Etagentoilette. Ein junger Mann trat heraus, Anfang zwanzig, langes Haar, Strickpulli selbst im April. Ein Student. Die Chancen standen nicht schlecht, dass er den früheren Uni-Dozenten kannte und vielleicht wusste, wann er nach Hause kommen würde. Carsten fragte ihn.
    »Sven?«, erwiderte der Junge. »Gestern Abend war er zu Hause, da habe ich mir noch ein paar Bücher von ihm geliehen. Er muss später oder heute früh fortgefahren sein. Sein Auto steht nicht vor der Tür.«
    »Du hast keine Ahnung, wo er hin ist oder wann er wiederkommt? Ich war vor zwei Tagen schon mal hier. Es ist wirklich wichtig.«
    Der Student schüttelte den Kopf. »Hast du was bei ihm liegen lassen?«
    Carsten wollte verneinen, doch dann nickte er. Er erinnerte sich an etwas, das er in Kirchhoffs Wohnung gesehen hatte. Etwas, das er sich gerne genauer ansehen wollte. »Ja, ein Buch«, sagte er deshalb. »Ich bin sein Nachfolger an der Uni. Ohne das blöde Ding bin ich aufgeschmissen.«
    Der Junge betrachtete ihn einen Moment lang kritisch. Carsten befürchtete, mit seinem Schwindel auf Glatteis gefahren zu sein. Dann nickte er plötzlich. »Ich schätze, da kann ich dir helfen.«
    Gemeinsam gingen sie zurück zur Wohnung. Der Student bat ihn, einen Augenblick zu warten. Kurz darauf kam er zurück, in der rechten Hand einen Schlüssel. »Ich werde aber dabei stehen bleiben«, sagte er, und noch einmal flammte ein Funken Misstrauen in seinen Augen auf. »Ich kenne dich ja nicht mal.«
    »Kein Problem.«
    Der Junge steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn herum. Drückte die Tür auf.
    Die Wohnung war leer, wie erwartet. Carsten sah sich um, aber da war nichts Auffälliges. Zielsicher trat er an eines der Bücherregale und zog ein schweres Buch hervor, von dem er hoffte, dass es wichtig genug aussah, um dafür einen Hausfriedensbruch in Kauf zu nehmen.
    Sein eigentliches Ziel aber war ein anderes.
    Das Fotoalbum, gleich vor ihm auf dem Tisch. Halb vergraben unter offsetgedruckten Uni-Magazinen. Da lag es, gebunden in weinrotes Kunstleder. Darin befand sich mit großer Sicherheit der Schlüssel zu den Bildern und Gesichtern, die er seit vierzehn Jahren mit sich herumtrug.
    Wenn der Junge ihn nur für einen Moment allein ließe, würde es ihm vielleicht gelingen, einen Blick hineinzuwerfen. Ein Foto von Sandra zu finden, das sie als erwachsene Frau zeigte. (Erwachsen? Sie starb, als sie gerade zwanzig war.) Ein Foto, das das Gesicht des jungen Mädchens endlich aus seinem Kopf vertreiben würde. Ihm eine andere Sandra zeigen würde, eine, die ihm fremder war, weniger vertraut. Eine, um die er weniger trauern müsste.
    Er beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. Betont ruhig beugte er sich vor

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