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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Unfall ums Leben kam. In beiden Fällen bleiben aber Sandras Briefe: Lebt sie noch, wäre es eine Dummheit und ein unnötiges Risiko gewesen, weiterhin an dich zu schreiben; ist sie tot, muss ein anderer dahinterstecken.«
    Carsten nickte. Genau das war sein Problem.
    Und im selben Augenblick fiel ihm etwas ein.
    »Gott, bin ich ein Idiot«, fluchte er laut.
    Die beiden musterten ihn verwirrt.
    »Der Brief!«, erklärte er.
    Sie verstanden noch immer nicht.
    Carsten schüttelte den Kopf.
    »Als ich das erste Mal in Sandras Haus war, vor zwei Tagen, lag mein Brief im Kasten. Der, den ich vor meinem Abflug in Frankfurt geschrieben hatte. Gestern habe ich vergessen, nachzusehen, ob er noch da war.«
    Nina blickte ihn fragend an. »Aber wer sollte ihn denn fortgenommen haben?«
    »Genau das ist es doch!«, rief er. »Wer auch immer meine Briefe beantwortet hat, muss regelmäßig den Kasten geleert haben. Wahrscheinlich war auch er es, der dafür sorgte, dass die alten Namensschilder niemals von Klingel und Briefkasten verschwanden.«
    »Möglicherweise wurde die gesamte Post bereits vorher umgeleitet«, gab Sebastian zu bedenken. »Wer weiß, ob sie jemals bis zu dieser Adresse gelangte.«
    Carsten schüttelte den Kopf. »Dagegen spricht doch, dass der letzte Brief im Kasten lag.«
    »Und du glaubst, er könne gestern bereits fort gewesen sein?«
    »Keine Ahnung. Woher soll ich wissen, wie oft der Kasten geleert wird? Falls er bereits verschwunden ist, gibt es keine Chance mehr, denjenigen dort zu erwischen.«
    »Vielleicht kommt er wieder und wartet auf weitere Briefe?«, meinte Nina.
    Wieder schüttelte er den Kopf. »Mit ziemlicher Sicherheit weiß er jetzt, dass ich von Sandras Tod erfahren habe. Und selbst wenn nicht – in meinem letzten Brief stand, dass ich hier im Osten bin. Er wird nicht mit weiteren Schreiben rechnen.«
    »Die einzige Möglichkeit, das herauszufinden, wäre die, hinzufahren und nachzusehen«, sagte Sebastian.
    Nina sah auf. »Jetzt noch?«
    »Das hat keinen Sinn«, meinte Carsten. »Mitten in der Nacht kommt man ohne Schlüssel nicht ins Haus hinein. Falls jemand es auf diesen Brief abgesehen hat, dann wird er ihn längst geholt haben.« Er seufzte. »Ich wette, der Kasten ist mittlerweile leer.«
    Rochus saß am Steuer des gestohlenen Wagens und blickte hinaus in die Nacht. Er beobachtete, wie Niklas die Straße überquerte, beide Hände in den Taschen seines weiten schwarzen Mantels vergraben. Eine Windbö strich zwischen den Häusern entlang und bauschte den Stoff auf wie das Gefieder eines Raubvogels. Das orange Licht der Straßenlampen streckte seinen Schatten ins Endlose. Einen Augenblick später tauchte er ins Dunkel des Hauseingangs und war verschwunden.
    Rochus hätte es vorgezogen, den Motor laufen zu lassen, aber in der stillen Seitenstraße hätte das Brummen für unerwünschtes Aufsehen gesorgt. Niklas hatte recht. Lieber eine Sekunde Verzögerung bei der Flucht, als unliebsame Zeugen während einer späteren Gegenüberstellung.
    Nicht, dass einer von beiden ernsthaft damit rechnete. Die Sache war zu simpel. Hineingehen, zuschlagen, verschwinden. Nur Routine. Risiko gleich null.
    Er hatte viel Zeit darauf verwendet, sein Gesicht mit falschen Augenbrauen, einem Bart, sogar Kontaktlinsen unkenntlich zu machen. Während der Ausbildung hatte man ihm eingebläut, dass Tarnung zum Wichtigsten gehörte, was es bei einer Entfernung zu beachten gab. Rochus respektierte den Rat seiner Ausbilder. Respekt war das A und O, hatte man ihm beigebracht. Respekt und Pflichterfüllung.
    Beides waren Dinge, die er bei seinem Einsatzleiter vermisste. Sicherlich, Niklas war Major und stand mehrere Ränge über ihm selbst. Er war der Dienstälteste und Erfahrenste, und seine Erfolge waren beachtlich. Trotzdem gab es Dinge, die Rochus nicht gefielen. Schwerwiegende Dinge.
    Erstens der Vorfall in Jena. Warum hatte Niklas nicht bis zum nächsten Abend gewartet, wie es üblich gewesen wäre? Warum hatte er sie im Hotel warten lassen und war damit Gefahr gelaufen, durch einen Abbruch der Aktion ihrerseits die ganze Sache zu gefährden?
    Zweitens Niklas' Beziehung zu Nadine. Rochus fragte sich, was wirklich zwischen den beiden lief. Es war Vorschrift, während eines Einsatzes keine Verbindung zu einem anderen Mitglied einzugehen. Keine enge Freundschaft, erst recht keinen Sex. Nach Abschluss des Einsatzes würde Rochus eine Meldung machen.
    Er lehnte sich zurück und beobachtete das Haus, in dem Niklas

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