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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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verschwunden war.
    In einem der Fenster flammte ein Licht auf.
    Es gab keine Klingel. Niklas klopfte zweimal, ehe hinter der Tür Geräusche laut wurden. Eine Decke wurde zurückgeschlagen, ein Lichtschalter betätigt. Keine Schritte.
    »Wer ist da?«, fragte eine verschlafene Stimme. Und kurz darauf, nach einem Blick auf die Uhr: »Lieber Himmel, um zwei Uhr nachts …«
    Niklas klopfte ein drittes Mal.
    »Verdammt, wer ist denn da?« Jetzt nackte Füße auf Teppichboden. Energisch.
    »Ich habe die Briefe«, sagte Niklas. Er machte sich nicht die Mühe, seine Stimme zu verstellen.
    »Worthmann? Sind Sie das?«, fragte Sven Kirchhoff hinter der Tür.
    »Erwarten Sie noch jemand anderen?«, fragte Niklas und hob die Pistole.
    Ein Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht, dann öffnete sich die Tür einen Spalt breit. »Großer Gott, hätte das nicht auch bis morgen Früh …«
    Niklas schoss ihm eine Kugel durchs linke Auge ins Gehirn. Das Geräusch war trotz des Schalldämpfers unangenehm laut. Er hoffte, dass die Nachbarn einen tiefen Schlaf hatten.
    Kirchhoff wurde zurückgeschleudert und landete mit Ellbogen und Hinterkopf auf dem Boden. Der Aufschlag des Körpers verschmolz mit dem Schnappen der Tür, als Niklas sie hinter sich zudrückte.
    Der Mann rührte sich nicht mehr, natürlich nicht, trotzdem beugte Niklas sich vor und feuerte ihm zwei weitere Kugeln ins Herz. Geh immer auf Nummer sicher. Es ist nicht dein Teppich.
    Er trat hinüber zum Bett und drückte auf den Schalter der Nachttischlampe. Dunkelheit. Allein die Straßenlaternen warfen jetzt noch mattgelbe Muster an die Zimmerdecke.
    Kirchhoffs Schlüsselbund steckte innen auf der Tür. Niklas zog ihn ab, trat hinaus und steckte ihn ins Schloss an der Außenseite. Dann zog er die Tür zu. Das sanfte Klimpern der Schlüssel klang wie ein Glockenspiel im Wind.
    Gegen vier, als auch der letzte Anwohner sein Licht gelöscht hatte, wurde die Straße von einem kurzen Stromausfall heimgesucht. Mit einem elektronischen Knistern verschluckte die Nacht das sterbende Licht der Laternen. Niemand bemerkte es. Und niemand sah die kräftige Gestalt, die mit einem großen Reisekoffer durch die Dunkelheit schlich und in einem Hauseingang verschwand.
    Fünf Minuten später trat sie zurück ins Freie. Der Koffer schien jetzt viel schwerer zu sein, die Gestalt ging gebeugt, und einmal entrang sich ihrem Mund ein leises Stöhnen.
    Alexander, der fünfte Mann in Niklas' Truppe, trug den Koffer zu Kirchhoffs ockergelbem Trabant und öffnete mit dem Schlüsselbund den Kofferraum. Lautlos hievte er das schwere Gepäckstück hinein. Er stieg ein, startete den Wagen und fuhr los.
    Während der nächsten Stunde stoppte er nur ein einziges Mal. Einen Block weiter beugte er sich über einen aufgebrochenen Verteilerkasten am Straßenrand und hantierte eine halbe Minute lang mit einem Schraubenzieher.
    In der schmalen Seitenstraße leuchteten die Laternen wieder auf.

Kapitel 9
    Der Eilbote brachte das Päckchen am frühen Samstagmorgen. Carsten öffnete es und blätterte flüchtig durch den Papierstoß. Elisabeth hatte alle Briefe gefunden.
    Er ging ins Wohnzimmer, räumte sein Bettzeug von der Couch und setzte sich. Die Handwerker hatten Wort gehalten; die Wohnung war tatsächlich wie neu. Die Blumentapete war weißgetünchter Raufaser gewichen, der Velourteppichboden verlegt und neue Fenster eingesetzt. Im Bad hatten sie die Kunststoffplatten von den Wänden und das PVC vom Boden gerissen und den gesamten Raum gekachelt. Sogar neue Armaturen hatte man angebracht.
    Er legte die Briefe auf den Couchtisch und begann, sie chronologisch zu sortieren. Sandra war beim Schreiben sehr sorgfältig gewesen; auf dem jeweils ersten Blatt stand rechts oben das Datum. Carsten legte die Briefe auf zwei Stapel. Einen für die Zeit vor dem zwölften Juni 1985, einen für danach. Sandras Todestag war ein Donnerstag gewesen.
    Viele der frühen Briefe fehlten, mehrere Dutzend, die beim Auszug aus dem Haus seiner Eltern verlorengegangen waren. Er nahm an, dass man sie später, nach dem Verkauf von Grundstück und Gebäude, fortgeworfen hatte.
    Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er sich in einzelnen Briefen festlas. Viel zu oft stieß er auf Passagen, auf Sätze, auf Ereignisse, die er längst vergessen hatte. Wie die zarten Finger einer Harfenspielerin brachten die Worte Saiten in seinem Kopf zum Klingen, Erinnerungen, die lange und schmerzhaft nachhallten, wie hohe, spitze Töne. Schließlich

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