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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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und nahm wie selbstverständlich das Album in beide Hände.
    »He, was machst du da?« Der Junge wurde misstrauisch.
    »Ich will nur etwas nachsehen«, erwiderte er und schlug das Album irgendwo in der vorderen Hälfte auf. Sandras Bilder würden weiter zurückliegen. Er wusste nicht, wie viel acht Jahre umgerechnet auf die Seiten eines Fotoalbums bedeuteten.
    Der Student war blitzschnell heran, legte die Hand auf das Album. »Tut mir leid, aber du musst jetzt gehen. Ich werde sowieso schon genug Ärger bekommen, wenn Sven erfährt, dass wir hier drinnen waren.« Es war offensichtlich, wie sehr er seine Hilfsbereitschaft bedauerte.
    »Sieh mal«, versuchte es Carsten diplomatisch, »ich suche nur nach einem alten Bild von mir und –«
    »Nein«, unterbrach ihn der Junge. Mit einer Entschlossenheit, die ihn selbst zu überraschen schien, riss er Carsten das Album aus den Händen, klappte es zusammen und presste es vor seine Brust. »Geh jetzt, bitte. Das gibt nur Ärger.«
    Einen ganz kurzen Moment lang erwog Carsten den Gedanken, es auf eine Konfrontation ankommen zu lassen, dem Jungen das Album zu entreißen, einen Blick hinein notfalls mit Gewalt zu erzwingen. Dann nickte er nur. »Schon gut«, sagte er, griff nach dem Buch, das er vom Regal gefischt hatte, und ging zur Tür.
    Der Junge legte das Album zurück auf den Tisch und folgte ihm. Von außen warf Carsten noch einen letzten Blick in den Raum. Hatte die bunte Perser-Imitation vor zwei Tagen nicht vor dem Bett gelegen? Jetzt lag der Läufer in der Mitte des Zimmers, fast so nah am Eingang, dass er die Tür blockierte. Er schüttelte den Kopf. Kirchhoffs Teppiche und die Art und Weise, wie er sie legte, waren nicht seine Sache.
    Der Student schloss die Tür ab. Mit finsteren Blicken folgte er Carsten durchs Treppenhaus, bis dieser unten ins Freie trat.
    Auf dem Rückweg fuhr er bei Sandras alter Adresse vorbei. Diesmal hielt er nicht erst vor der Haustür, sondern fuhr gleich weiter bis zum Durchgang, der auf den Innenhof führte. Dort ließ er den Wagen stehen und betrat den schmutzigen Wohnkomplex zum dritten Mal innerhalb weniger Tage.
    Vom Hof drang Lärm herüber, und als er aus dem Durchgang trat, erkannte er, woher er rührte. Etwa ein Dutzend Erwachsener hatte es sich auf billigen Gartenstühlen rund um zwei Tische bequem gemacht. Jeder Zentimeter der Tischplatten schien gefüllt zu sein mit Bierdosen, die meisten waren geöffnet. Vereinzelt ragten dazwischen die Hälse einiger Schnapsflaschen hervor. Auf dem Boden standen weitere Dosen und Flaschen. Viele leer.
    Die Männer und Frauen redeten alle durcheinander. Viele ihrer Gesichter sahen verhärmt aus, manche aufgequollen. Gleich drei oder vier Frauen hatten auberginefarbenes Haar, eine trug abgewetzte Kniestiefel unter fetten Oberschenkeln, dazu Jeanshemd und Slip. Die Männer trugen Jeans oder Baumwollhosen, die wenigsten hatten sich die Mühe gemacht, Pullover oder T-Shirts über ihre Unterhemden zu ziehen. Einige Kleinkinder saßen auf dem Boden im Dreck und spielten zwischen aufgeplatzten Müllsäcken.
    Carsten suchte den Jungen, mit dem er am Fenster gesprochen hatte, konnte sich aber nicht an sein Gesicht erinnern. Es war dunkel gewesen, hatte geregnet. Die Ratten leben unter dem Müll, hatte der Kleine gesagt. Irgendwann holen sie uns, wenn niemand den Dreck wegräumt.
    Carsten schob sich an der feiernden Horde vorbei, ohne dass ihm jemand mehr als einen flüchtigen Blick schenkte. Irgendwer drückte auf die Taste eines Radiorecorders. Schräge Schlagermusik dröhnte verzerrt über den Hof.
    Er betrat das Treppenhaus und ging nach vorne zu den Briefkästen. Warf einen Blick durch den Schlitz.
    Leer.
    Sein Brief war verschwunden. Wie er erwartet hatte.
    Mit weiten Schritten stieg er die Treppen hinauf, immer zwei Stufen gleichzeitig, bis er vor der Wohnungstür der alten Frau stand. Es gab kein Namensschild, nur eine Klingel neben der Tür. Daneben klebte ein Papierstreifen, auf den jemand mit Kugelschreiber ein Wort geschrieben hatte, einen Namen. Die Schrift war verblasst und unleserlich.
    Carsten drückte den Klingelknopf, wartete. Nichts. Allmählich wurde es zu einer schlechten Gewohnheit, vor Türen zu stehen, die niemand öffnete. Er klopfte, bekam aber keine Antwort. Die Frau war nicht zu Hause.
    Er stieg die Treppen hinunter, hinaus auf den Hof. Als er die johlende Gruppe passierte, brachen ihre Gespräche ab. Alle verstummten. Ein Dutzend Gesichter wandte sich zu ihm um.

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