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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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tapfer. Einfach nur ein stilles Nicken. Allein das war ein Akt enormer Selbstbeherrschung.
    Seine Mutter zögerte einen weiteren Moment, dann erhob sie sich und verließ den Raum, erst mit langsamen Schritten, dann immer schneller. Als verliere Konstantin mit wachsender Entfernung immer mehr von seiner Macht über sie.
    »Worum geht es?«, fragte er, so erwachsen wie möglich. Lieber Himmel, er war siebzehn.
    »Um deine Freundin Sandra«, erwiderte Konstantin ohne Umschweife. »Ihr seid Brieffreunde, nicht wahr?«
    Es hätte ihn überraschen sollen, aber das tat es nicht. Dazu war er viel zu nervös. Vorsichtig fragte er: »Stimmt etwas nicht mit ihr?«
    Konstantin schüttelte eilig den Kopf und gab eine weitere Kostprobe seines gütigen Lächelns. »Deiner Freundin geht es gut. Zumindest liegen mir keine gegenteiligen Meldungen vor. Ich darf dich doch duzen, oder?«
    Carsten nickte stumm.
    »Nun, es ist so«, fuhr der ältere Mann fort, »von Zeit zu Zeit erfahren wir von deutsch-deutschen Kontakten, solchen wie zwischen dir und Sandra, aber auch solchen, die viel schwerer wiegen, zwischen Wissenschaftlern, Politikern oder Beamten. Uns interessieren eigentlich nur die letzteren, aber es ist mein Beruf, alle Aufträge zu erledigen, die auf meinem Tisch landen. Und diesmal wart das eben ihr beiden. Wer weiß, warum man gerade euch aus dem Stapel gezogen hatte. Ist so etwas wie ein Sechser im Lotto, schätze ich.« Er schmunzelte, und Carsten erwiderte es mit einem höflichen Lächeln. Ihm war schlecht.
    »Meine Aufgabe ist es, in solchen Fällen ein paar Fragen zu stellen, harmlose Fragen, auf die ich sicher harmlose Antworten bekommen werde.«
    Carsten nickte wieder. Langsam wurde er ruhiger.
    »Also, woher kennt ihr beide euch?«
    »Sandra ist meine Cousine. Das heißt, nicht ganz. Ihr Vater ist der Cousin meines Vaters.«
    Konstantin nickte. Sagte nichts. Wartete.
    »Wir haben sie vor zwei oder drei Jahren besucht. 1979 war das, glaube ich.«
    »Ihr wart in Leipzig?«
    »Ja.« Als ob Konstantin die Antwort darauf nicht wusste.
    »Hattest du Kontakt zu anderen Bürgern der DDR? Abgesehen von Sandra.«
    »Zu ihren Eltern.«
    Konstantin nickte. »Meine Frage war dumm gestellt. Gab es außer deinen Verwandten noch andere DDR-Bürger, die du dort kennengelernt hast?«
    »Nein, niemanden. Das heißt, da war noch ein Arzt …«
    Nichts an Konstantins Äußerem verriet ein besonderes Aufhorchen, nur seine Stimme klang um eine Winzigkeit aufmerksamer als zuvor. »Was für ein Arzt?«, wollte er wissen.
    Carsten erzählte ihm, dass er beim Schlittschuhlaufen gestürzt war und sich einen Knöchel gebrochen hatte. Das Sperrgebiet verschwieg er. Weshalb, wusste er selbst nicht.
    »Anschließend hat mich ein Arzt untersucht. Er kam ins Haus und behandelte den Bruch.«
    »Du warst nicht im Krankenhaus?«
    Carsten schüttelte den Kopf. »Nein. Der Arzt hat das alles zu Hause erledigt.«
    »Er hat dich nicht mal geröntgt?«, fragte Konstantin. Carsten bezweifelte, dass es Sorge um seinen Knöchel war.
    »Nein«, antwortete er. »Wir waren zwei Tage später hier im Westen im Krankenhaus. Dort haben sie den Bruch ein zweites Mal untersucht und festgestellt, dass die Behandlung völlig in Ordnung war.«
    Jetzt erst fiel ihm auf, dass Konstantin sich keine Notizen machte. Vielleicht hatte er den Mann unterschätzt; er fragte sich, ob Konstantin jedes einzelne Wort im Gedächtnis behielt, jeden Satz, jede Formulierung.
    »Kannst du dich an den Namen dieses Arztes erinnern?«
    »Er hat sich nicht vorgestellt, glaube ich. Warum ist das so wichtig?«
    Zum ersten Mal erschien in Konstantins Augen eine Regung, die über seine äußerliche Ruhe hinausging. Zorn funkelte darin.
    »Mein Junge, die Fragen stelle ich. Gab es sonst noch jemanden, mit dem du oder deine Eltern im Haus eurer Verwandten Kontakt hattet?«
    »Nein, keinen.«
    Konstantin nickte, als wäre das die Antwort, die er erwartet hatte. Dann fragte er: »Und du und Sandra schreibt euch seit diesem Besuch?«
    »Ja.«
    »Wer hat damit begonnen?«
    »Sie meinen, wer den ersten Brief geschrieben hat?«
    »Genau.«
    »Ich glaube, das war ich. Aber wir hatten uns bereits in Leipzig versprochen, dass wir uns schreiben würden.«
    »Worüber?«
    »Alles Mögliche. Was man eben so schreibt. Über Schule, Eltern, Freunde und so weiter. Soll ich Ihnen die Briefe zeigen?«
    Konstantin schüttelte den Kopf. »Nicht nötig.«
    Weil du sie ohnehin schon alle kennst?, fragte Carsten in

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