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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Ausdruckslos. Manche misstrauisch.
    Bemüht, ihre Blicke zu ignorieren, beschleunigte er seine Schritte. Sein Magen rumorte. Er fühlte sich erst sicher, als er im Wagen saß und erleichtert den Zündschlüssel drehte.
    Er verbrachte den Rest des Tages und einen Großteil der Nacht damit, Sandras Briefe zu lesen. Im Jahr 1985 hatte sie insgesamt dreiundzwanzigmal geschrieben, dreizehn Briefe vor dem zwölften Juni, zehn danach. Im Juni selbst hatte sie zweimal geschrieben, je einmal vor und nach ihrem offiziellen Todestag. Er las beide Briefe mindestens zwanzigmal, ohne irgendwelche Unterschiede in Ton, Stil oder Gewichtung der Inhalte zu finden. Beide waren in derselben Handschrift geschrieben, beide offenbar mit der gleichen blauen Tinte aus demselben Füllhalter.
    Es gab einige Briefe, die mit einer alten, mechanischen Schreibmaschine verfasst waren, sowohl vor wie auch nach dem zwölften, doch auch daran war nichts Ungewöhnliches. Für alle war die gleiche tragbare Reiseschreibmaschine benutzt worden. Sie hatte einmal Sandras Vater gehört und war nach der Hochzeit in ihre Mitgift gewandert. Sandra erzählte in einem der Briefe, wie sie sie ihrem Vater abgeschwatzt hatte.
    Mehrfach wurde Carsten aus seiner Lektüre gerissen, als in der Wohnung über ihm eine Frau auf ein weinendes Kind einschrie. Gelegentlichen Krach auf der Straße sperrten die neuen Fenster weitgehend aus; der Lärm aber, der im Haus selbst tobte, drang ungehindert durch Decken und Wände.
    1983, dem Jahr, in dem Sandra Sven Kirchhoff geheiratet hatte, hatte sie ihm einen Brief geschrieben, der wider Erwarten unbeschadet über die Grenze gelangt war. Offenbar war er durch eine Riesenportion Glück unter den wachsamen Augen der Staatssicherheit hindurchgehuscht.
    Der Brief bezog sich auf ein Ereignis, von dem Carsten ihr in seinem vorhergehenden Schreiben berichtet hatte. Ein Mitarbeiter einer Bundesbehörde hatte sich für ihre Freundschaft interessiert und eine Reihe Fragen gestellt. Carsten erinnerte sich immer noch genau an den Besuch des Mannes, sah ihn vor sich, hörte seine Stimme und spürte die Verwirrung, die er damals gefühlt hatte. Er sah einen Ausdruck auf dem Gesicht seiner Mutter, den er nie hatte deuten können, jene Mischung aus Empörung, Beschämung und Furcht.
    Der Mann war klein, Ende vierzig, sein Haar frühzeitig ergraut. Er trug Hut und Mantel, aber nicht von der Art, wie Agenten sie im Kino vor konspirativen Treffen überzogen; zwar grau und unauffällig, doch eher von einer unscheinbaren, allem Modischen gegenüber gleichgültigen Sorte. Wie ein auferstandenes Klischee, das irgendwer für einen Kurzauftritt aus einer Kiste mit Kino-Charakteren gefischt hatte.
    Er sprach ruhig, langsam, nahezu tonlos. Er zeigte Carsten und seiner Mutter einen Ausweis, an dessen Aufschrift keiner von beiden sich später erinnerte. Nur der Name war Carsten über die Jahre hinweg im Gedächtnis geblieben: Johann W. Konstantin. Weshalb er sich auch heute noch an das W erinnerte, wusste er nicht. Vielleicht, weil er glaubte, dass es Wilhelm hieß. Der Mann sah aus wie ein Johann Wilhelm. Welch weise Voraussicht seiner Eltern.
    Carstens Mutter bat Konstantin ins Wohnzimmer. Er bedankte sich, nahm Hut und Mantel ab und ging hinter ihr her. Mit einem kurzen Blick vergewisserte er sich, dass Carsten ihnen folgte.
    »Ich würde mich gerne einen Augenblick lang mit Ihrem Sohn alleine unterhalten«, sagte der Mann, als sie sich auf Sofa und Sessel gegenübersaßen.
    Carsten und seine Mutter wechselten einen Blick.
    »Er ist noch minderjährig«, sagte sie schließlich, wieder an Konstantin gewandt.
    Der Mann lächelte gutmütig. »Keine Sorge. Nichts von dem, was Carsten und ich besprechen werden, kann in irgendeiner Form gegen ihn oder Sie verwendet werden.«
    Carsten hatte den Eindruck, dass Konstantin es ehrlich meinte. Auch wenn sein harmloses Äußeres nach Maskerade roch. Carsten gestand sich schweigend ein, dass er Angst vor dem Mann mit dem freundlichen Lächeln hatte. Es ist seine Autorität, sagte er sich, einfach eine Art von Respekt ihm gegenüber. Keine echte Angst. Natürlich nicht.
    »Glauben Sie mir«, fuhr Konstantin fort, als Carstens Mutter keinerlei Anstalten machte, ihn mit ihrem Sohn allein zu lassen, »der Grund meines Besuchs ist harmlos. Routine, wenn Sie verstehen.«
    Das tat sie nicht, und genauso wenig verstand Carsten, trotzdem nickte er ihr zu. Geht in Ordnung, hieß das, aber er fühlte sich dabei alles andere als

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