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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Abzug der Waffe durch. Für einen Moment war er nicht nur geblendet, sondern auch vollkommen taub, als der Schuss mit ohrenbetäubendem Donner durch den Keller hallte. Dann war da ein Schrei. Der Druck von Sebastians Körper verschwand. Dem Schrei folgte ein Wimmern, das sich langsam entfernte.
    Er brauchte mehrere Sekunden, vielleicht eine halbe Minute, bis sich die Benommenheit wie ein Nebel von seinen Sinnen hob. Als er das linke Auge öffnete – das rechte war zugeschwollen wie ein Ballon –, war Sebastian verschwunden. Nur sein Wimmern war noch zu hören, weit entfernt und weiter oben. Er machte einen Schritt in Richtung der Treppe und trat in eine Pfütze. Es war Blut.
    Ein schmaler roter Faden zog sich ohne Unterbrechung die Stufen hinauf und hinaus auf den oberen Korridor. Er folgte ihm, so schnell es ihm die Schmerzen in seinem Gesicht erlaubten, und kam an eine offene Tür. Dahinter lag ein Raum, von dem aus eine weitere Treppe nach oben ins Freie führte. Sebastian lag keuchend auf den Stufen, gebadet in das matte Licht einer Straßenlaterne. Sein Hemd war durchtränkt von dunklem Blut. Mit allerletzter Kraft versuchte er, sich die Treppe hinaufzuziehen; das Paket mit den Briefen hielt er noch immer fest umklammert.
    Fenn sah, dass er es nicht schaffen würde. Es war ein Bauchschuss; er verlor viel zu viel Blut.
    Fenn trat näher heran und beobachtete, wie auch sein letzter Fluchtversuch in einem erstickten Keuchen verebbte. Er hatte das nicht gewollt. Der Schuss war ein Reflex auf den Schlag in sein Gesicht gewesen. Ein Treffer unter diesen Umständen war purer Zufall.
    Er beugte sich vor und zog die Schachtel zwischen den krampfenden Fingern hervor. Sebastian drehte mit letzter Kraft den Kopf und wandte langsam den Blick in seine Richtung. Auf seinem Gesicht vermischten sich Blut und Tränen zu einem glänzenden Film. Er sah Fenn an, und von einem Augenblick zum anderen begann er zu schreien. Laut, hoch und misstönend. Der verzweifelte Schrei eines Leidenden. Die Kugel hatte ein Loch in seine Gedärme gerissen. Die Qual brachte ihn um den Verstand.
    Fenn zögerte kurz, dann beugte er sich ein zweites Mal hinunter, setzte die Pistole an Sebastians Schläfe und gab ihm den Gnadenschuss. Die Schreie endeten abrupt wie ein zerrissener Bindfaden. Sebastian zuckte ein letztes Mal, dann sackten seine Glieder in sich zusammen. Sein lebloser Körper blieb auf den Stufen liegen wie die fortgeworfene Marionette eines Puppenspielers.
    Fenn schenkte ihm einen letzten, traurigen Blick, dann wandte er sich um und rannte mit den Briefen in der Hand davon. Zurück ins Labyrinth, fort, zu einem anderen Ausgang.
    Draußen, oberhalb der Treppe, wurden Lichter eingeschaltet und Türen geöffnet. Jemand kam näher, blickte hinab in den Kellerschacht und schrie. Ein anderer rief nach Krankenwagen und Polizei. Immer mehr Köpfe schoben sich vor das Quadrat des Nachthimmels, zitternd und zögernd wie sterbende Käfer.
    Die Straßen rochen nach Regen und dem würzigen Atem der Wälder. Das Unwetter hatte etwa auf halber Fahrt vom Restaurant zu Ninas Wohnung schlagartig aufgehört. Jetzt hatten sie die Fenster heruntergekurbelt und genossen den kühlen Fahrtwind auf ihrer Haut. Die Nässe zischte unter den Reifen, das Wasser aus Schlaglöchern und Bodenwellen spritzte meterhoch. Einmal passierten sie eine Stelle, an der die Straße abgesackt war. Die Vertiefung stand knöchelhoch voll Wasser. Als sie hindurchfuhren, schlug die aufspritzende Gischt so laut gegen die Unterseite des Wagens, dass Nina erschrocken zusammenzuckte. Als er den Wagen vor dem Haus stoppte, wandte sie sich zu ihm um und sagte: »War ein netter Abend.«
    »Fand ich auch.«
    »Und jetzt?«
    Er hob die Schultern und lächelte. »Du steigst aus, sagst gute Nacht und gehst hoch in deine Wohnung.«
    »Ach, hör auf damit.«
    »Was sonst?«
    Sie beugte sich vor und küsste ihn auf den Mund. Als sie sich nach mehreren Sekunden zurückzog, verzog er enttäuscht das Gesicht.
    »Glaubst du, dass das gut wäre?«, fragte sie.
    »Dass was gut wäre?«
    »Mein Gott, sei nicht so unsensibel.«
    Er zuckte mit den Achseln. »Was denkst du?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Es geht nicht um mich. Was ist mit dir? Und mit Sandra?«
    Ihr Name holte ihn zurück auf den Boden. »Sie ist tot, oder?«
    Seine Stimme klang weit weniger fest, als er es sich wünschte. »Selbst wenn sie tot ist – du bist immer noch in sie verliebt, nicht wahr?«
    Er überlegte einen Augenblick. Es

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