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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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setzte ihm nach. Es war unglaublich. Dieser Junge hatte ihn ausgetrickst. Trotz jahrelanger Ausbildung und noch längerer Erfahrung. Der Gedanke an die Ratte hatte ihn abgelenkt wie einen Anfänger.
    Er hätte schießen können, doch er wollte Lärm und Aufregung vermeiden. Außerdem hatte er kein Interesse daran, Korall umzubringen. Es war unnötig. Alles, was er wollte, waren die Briefe. Töten würde er nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Er sah, wie Sebastian durch einen dunklen Torbogen nach rechts bog, fort von der Straße auf einen finsteren Hinterhof. Fenn erinnerte sich an das, was er über Korall in seinen Unterlagen gelesen hatte. Früher hatte er sich oft tagelang im Gewirr der alten Gassen und Ruinen versteckt. Bei mehr als einer Gelegenheit hatte er die Polizei im Labyrinth der mittelalterlichen Altstadt abhängen können. Korall war hier zu Hause, kannte jeden Stein und jeden Winkel, und das würde ihm auch jetzt zugute kommen. Er war kein Anfänger in der Kunst des Versteckens und Davonlaufens. Wenn es Sebastian gelingen würde, hinunter ins Netz der Keller zu gelangen, würde es schwierig werden, ihn dort wiederzufinden.
    Fenn rannte durch das Tor und sah noch, wie Sebastian einen Treppenschacht hinabsprang, das Päckchen mit den Briefen fest an seine Brust gepresst. Er hetzte quer über den Hof, hörte, wie Sebastian eine morsche Holztür eintrat, und erreichte wenige Augenblicke später die Treppe. An ihrem Ende gähnte ein Loch. Zerbrochene Holzlatten stachen aus dem Türrahmen wie schwarze Haifischzähne.
    Mit einem einzigen Satz sprang er hinab in den Schacht und weiter ins Dunkel. Ein Lichtschalter, eine aufflammende Glühbirne, ein Kellerraum. Eine offene Tür auf der gegenüberliegenden Seite. Das Echo von Schritten in der Ferne. Fluchend stürzte er hinter Sebastian her, auf einen schmalen Korridor, dessen Decke so niedrig war, dass er den Kopf einziehen musste. Rechts und links zweigte ein halbes Dutzend Türen ab. Etwa in der Mitte des Ganges hatte jemand einen Haufen mit Mülltüten errichtet. Sebastian stieg gerade darüber hinweg.
    »Bleiben Sie stehen!«, rief Fenn, wohl wissend, dass es nichts nützen würde.
    Keuchend stolperte Sebastian weiter und erreichte das andere Ende des Korridors. Fenn überlegte erneut, ob er schießen sollte, entschied sich aber dagegen. Die Gefahr war zu groß, dass er ihn nicht nur verletzen, sondern töten würde. Außerdem war selbst hier unten ein Schuss zu laut und würde für Aufruhr sorgen. Er verfluchte sich dafür, dass er keinen Schalldämpfer eingesteckt hatte.
    Bis er selbst die Mülltüten hinter sich gelassen hatte, war Sebastian längst durch die nächste Tür verschwunden. Fenn fragte sich, wie weit die Keller untereinander verbunden waren. Er wusste, dass alles Fluchen keinen Sinn hatte, tat es aber trotzdem. Es war mehr als angebracht, fand er.
    Die Waffe im Anschlag sprang er durch die offene Tür. Es überraschte ihn nicht, dass dahinter ein weiterer Gang lag. Er sah noch, wie Sebastian um eine Ecke bog. Fenn folgte ihm so schnell er konnte und verlangsamte sein Tempo erst wenige Schritte vor der Biegung, um sicherzugehen, dass er nicht in einen Hinterhalt lief. Aber als er, die Pistole vorgestreckt, um die Ecke trat, erwarteten ihn nur einige weitere Meter leeren Korridors. An seinem Ende lag eine Treppe. Sie führte weiter nach unten.
    Immer drei Stufen auf einmal nehmend stieg er tiefer hinab in das moderige Kellerlabyrinth. Die Luft roch feucht und abgestanden. An einer Wand wucherte inmitten nasser Flecken eine schillernde Pilzkultur. Flechten und Spinnweben überzogen das nackte Gestein. Er blieb stehen und lauschte auf Schritte.
    Im selben Moment ging das Licht aus. Sebastian musste irgendeine Stromleitung gekappt haben. Die Dunkelheit überfiel ihn von allen Seiten wie etwas Lebendiges, Hungriges.
    Fenns Fähigkeit, selbst in völliger Finsternis Formen und Bewegungen wahrzunehmen, stellte sich ein wie ein Notaggregat. Der matte Schimmer, der aus dem oberen Keller die Stufen hinabfloss, reichte aus.
    Sebastian kam von hinten und versuchte ihn zu packen. Fenn roch den Alkohol im Atem des Journalisten, während er sich mit einer blitzschnellen Bewegung aus der Umarmung wand, die Pistole herumriss – und schmerzerfüllt aufschrie. Wieder war es die Schachtel, die ihn traf, doch diesmal bohrte sich ihre Kante in die weiche Haut unterhalb seines rechten Auges. Er stürzte, riss die Linke abwehrend nach oben und zog blind den

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