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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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mich das alles hier ankotzt. Also lassen Sie mich in Ruhe, und verschwinden Sie.«
    »Also doch ein Sheriff.«
    Das Gesicht des Kommissars entspannte sich. »Wissen Sie, ich glaube, Sie sind noch nicht lange bei uns. Bestimmt haben Sie drüben im Westen gehört, was für Menschen wir Ostdeutschen sind. Alle bei der Stasi, alle ein wenig dumm. Wir lassen uns Versicherungen andrehen, die niemand braucht. Auf den Marktplätzen haben wir '90 die fahrenden Sex-Shops leergekauft – weil wir nicht mal richtig vögeln können, stimmt's? Irgendwo steckt all das in Ihrem Kopf. Vielleicht ganz hinten, in irgendeiner Ecke, und möglicherweise sind Sie einer von denen, die das nicht einmal zugeben. Und weil ich Ihnen genau das an der Nasenspitze ansehe, rate ich Ihnen abzuhauen und meine Leute nicht bei der Arbeit zu stören.«
    »Sind Sie jetzt fertig?«
    Der Kommissar hob die Schultern und zog eine Packung Zigaretten aus der Jackentasche. Er steckte sich eine zwischen die Lippen und fragte: »Haben Sie Feuer?«
    »Sicher.«
    Der Kommissar beugte sich vor, bis die Glut übersprang, nahm einen tiefen Zug und schüttelte sanft den Kopf. »Es gibt einen Spruch, den ich letztens gehört habe. Es besagt, dass ihr aus dem Westen genauso seid wie eure Brötchen. Außen aufgeblasen, innen hohl. Ich glaube nicht, dass das auf jeden zutrifft. Ich kenne eure Brötchen nicht. Schätze, das ist ganz gut so.« Er drehte sich um. »Danke für das Feuer.«
    Er ließ Carsten stehen und stieg über die Absperrung. Im Gehen gab er zwei Polizisten einen Wink. Die beiden kamen auf Carsten zu und blieben einige Schritte vor ihm stehen, fast wie Abwehrspieler beim Freistoß.
    Carsten zögerte einen Augenblick, dann ging er zurück zu seinem Wagen. Als er davonfuhr, überlegte er, ob er eine Niederlage eingesteckt hatte. Er hatte ein Foto, und vielleicht würde Michaelis es drucken. Vielleicht auch nicht.
    Später, im Bett, kam ihm der Gedanke, dass in einer Kleinstadt wie Tiefental ein Mord keine alltägliche Sache war.
    Das hier war nicht Frankfurt.
    Er hatte einen Fehler gemacht.

Kapitel 2
    Carsten erfuhr es am nächsten Morgen in der Redaktion. Als er eintraf, saßen alle beisammen. Keiner sprach, als er zur Tür hereinkam. Keiner lächelte. Ihm fiel auf, dass Nina nicht da war.
    »Kommen Sie bitte in mein Büro«, bat Michaelis ihn.
    Sein erster Gedanke war, dass sie ihn feuern wollten. Die Trauermienen der anderen sprachen Bände. Dann fiel ihm auf, dass eine Redakteurin geweint hatte und mit verkrampften Fingern ein Papiertaschentuch in der Hand hielt.
    Keine Kündigung. Niemand würde um ihn weinen. Vielleicht hatte der Verlag das Erscheinen der Zeitung eingestellt. Sie alle wären dann arbeitslos. Das klang schon eher nach einem Grund zum Heulen.
    »Herr Korall ist tot«, sagte Michaelis, als sie sich an seinem Schreibtisch gegenübersaßen.
    Einige Sekunden lang war Carsten nicht in der Lage, irgendetwas zu erwidern. Nicht einmal einen simplen Ausdruck seiner Fassungslosigkeit.
    »Sebastian?«, fragte er schließlich. Es war das Einzige, was ihm einfiel.
    Der Redaktionsleiter nickte. »Die Polizei war heute früh hier. Der Wachmann hat sie zu mir nach Hause geschickt.«
    Carsten holte tief Luft. »Warum die Polizei? Ich meine …«
    Michaelis unterbrach ihn mit einem behutsamen Nicken. »Man hat ihn ermordet. Erschossen.«
    »Erschossen?«
    »Das sagt die Polizei. Offensichtlich glauben sie, er wurde überfallen. Gestern Abend gegen Viertel vor zehn.«
    »Aber, lieber Himmel, warum denn? Einbrecher?«
    »Nein«, sagte Michaelis. »Es ist draußen auf der Straße passiert. Man hat seine Leiche im Schacht einer Kellertreppe gefunden.«
    Carsten sah wieder die Menschenmenge vom Vorabend. Sah die Umrisse aus weißem Band auf den steinernen Stufen. Die Männer von der Spurensicherung mit ihren Pinseln und Fegern. Die Scheinwerfer. Die Streifenwagen. All das eingetaucht in einen grellen Schein aus kaltem, klinischem Weiß. Sein Blitzlicht.
    Großer Gott, er war dort gewesen. Der Tote, den der Krankenwagen abtransportiert hatte, war Sebastian gewesen. Carsten musste an seine Kamera im Handschuhfach denken. Plötzlich überkam ihn Ekel.
    »Ich glaube, Sie und Sebastian hatten sich angefreundet, nicht wahr?«, fragte Michaelis.
    Carsten brachte ein stummes Nicken zu Stande.
    »Wenn Sie wollen, fahren Sie nach Hause. Wir bekommen die Zeitung auch ohne Sie hin.«
    Noch ein Nicken. Gleichzeitig der glühendheiße Gedanke, dass die anderen Sebastian

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