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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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wäre so einfach gewesen, jetzt nein zu sagen. »Ich glaube schon.«
    Sie nickte. »Dann sollten wir gar nicht erst damit anfangen.«
    »Hat das eine was mit dem anderen zu tun?«
    »Sicher.«
    Er schwieg für einen Augenblick, dann nickte er. »Wahrscheinlich hast du recht.«
    Sie öffnete die Tür, schwang eines ihrer langen Beine hinaus auf den Bordstein. Dann beugte sie sich plötzlich ein letztes Mal zu ihm herüber, küsste ihn zum Abschied auf die Wange und stieg aus. »Wir sehen uns«, sagte sie.
    »Ja, wir sehen uns.«
    Die Tür schlug zu. Nina verschwand im Hauseingang, ohne sich umzusehen. Er starrte hinter ihr her auf die Tür und glaubte drinnen noch ihre Schritte auf der Treppe zu hören. Schließlich fuhr er los.
    An der nächsten Kreuzung brachte er den Wagen mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Vor ihm jagte ein Streifenwagen mit Blaulicht vorüber. Der Fahrer hatte die Sirenen um diese Uhrzeit nicht eingeschaltet. Es waren ohnehin kaum Autos unterwegs.
    Dem ersten Polizeifahrzeug folgte ein zweites. Carsten überlegte; er hatte keine Lust, den beiden Wagen hinterherzufahren. Trotzdem gewann seine Neugier die Oberhand; es gab Pflichten, auch in seinem Job. Gelegentlich sprang bei solchen Einsätzen eine brauchbare Geschichte heraus. Wenigstens ein, zwei Fotos, die man würde abdrucken können. Bilder wurden extra bezahlt. Und ein Gespräch mit Betroffenen und Zeugen machte oft aus einer Meldung einen Aufmacher auf der ersten Seite.
    Er trat aufs Gas und folgte den Rücklichtern der Streifenwagen. Wenige Minuten später hielten sie in einem verwinkelten Teil der Altstadt, den er noch nicht kannte. Zwanzig bis dreißig Menschen hatten sich versammelt, einige trugen Morgenmäntel und Shorts. Etwas hatte sie aus ihren Betten gerissen. Zwei weitere Polizeifahrzeuge standen bereits da, und ein Krankenwagen setzte sich gerade in Bewegung und fuhr davon. Er hatte weder Blaulicht noch Sirene eingeschaltet.
    Zwei Polizisten redeten auf die Menge ein und baten die Leute, zurück in ihre Häuser zu gehen. Es gäbe hier nichts mehr zu sehen. Sie sollten nicht die Arbeit der Polizei behindern. Man werde sie am Morgen befragen.
    Carsten hatte aus Gewohnheit eine kleine Canon-Kamera im Handschuhfach. Jetzt holte er sie hervor, stieg aus und zeigt einem der beiden seinen Presseausweis. Der Polizist musterte ihn abschätzig, dann verwies er ihn an einen dunkelhaarigen Mann in Jeans und schwarzem Blazer.
    Er bedankte sich und ging weiter. Der leitende Kommissar, auf den der Polizist gedeutet hatte, beachtete Carsten kaum, als er sich vorstellte und erneut seinen Ausweis zeigte. Der kurze Blick des Mannes verriet nicht, was er über ihn dachte; wahrscheinlich dachte er überhaupt nichts.
    »Können Sie mir sagen, was passiert ist?«, fragte Carsten.
    Der Kommissar schüttelte den Kopf. »Sprechen Sie morgen früh mit der Pressestelle.« Mit raschen Bewegungen kritzelte er etwas in sein Notizbuch.
    Als Carsten an ihm vorübersah, entdeckte er die Absperrung aus gestreiftem Plastikband, die die Polizisten im Halbkreis um eine schmale Kellertreppe gezogen hatten. Das Haus darüber schien unbewohnt. Die meisten Scheiben waren zerbrochen, dahinter war es stockdunkel. Carsten trat an dem Kommissar vorbei an die Absperrung und blickte die Treppe hinunter. Oben wie unten hatte man Scheinwerfer aufgestellt. Über die Stufen hinweg waren mit weißem Band die Umrisse eines Menschen mit abgewinkelten Gliedern nachgezeichnet worden. Der Körper war bereits abtransportiert. Zwei Männer von der Spurensicherung kehrten behutsam Staub von der Treppe, jede Stufe einzeln, und verpackten ihn in Klarsichtbeuteln. Carsten drückte auf den Auslöser seiner Kamera. Das Blitzlicht flackerte auf.
    »He!«, ertönte es hinter ihm. Carsten fuhr herum.
    Der Kommissar kam auf ihn zu und baute sich wenige Zentimeter vor ihm auf. »Sie sind nicht von hier, was?«
    »Ich arbeite für den Harzboten.«
    »Sie sind nicht von hier«, wiederholte der Kommissar. Diesmal war es keine Frage, sondern eine Feststellung.
    »Aus Frankfurt.«
    »Aus dem Westen?«, fragte der Polizist und gab sich die Antwort gleich selbst: »Natürlich aus dem Westen. Wissen Sie, wer ich bin?«
    »Der Sheriff von Nottingham?«
    »Witzig – also?«
    »Ich gebe auf. Wer sind Sie?«
    »Nur ein kleiner Polizist, der auf seine Verbeamtung wartet, damit er Leuten wie Ihnen die Meinung sagen kann, ohne gefeuert zu werden. Ich habe eine Familie, die ich ernähren muss, egal, wie sehr

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