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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Rezeption. Mit Verschwörermiene beugte er sich vor. »Sicher war es ein Überfall. Aber von wem? Und warum? Sehen Sie, seit der Wende ist die Zahl der Raubüberfälle bei uns in astronomische Höhen geschnellt. Aber die Täter benutzen in der Regel Waffen, an die jedermann leicht herankommen kann. Messer, Gaspistolen. Auch mal ein Luftgewehr. Aber die Waffe, mit der unser Freund erschossen wurde, war kein Spielzeug.« Er schwieg für einen Moment; ob er es tat, um sich zu erinnern, oder nur um den dramatischen Effekt seiner Erzählung zu unterstreichen, wusste Carsten nicht. Schließlich fuhr der Alte fort: »Sebastian wurde mit einer 22er Beretta getötet. Sagen jedenfalls meine Freunde bei der Polizei.«
    »Und was heißt das?«
    »Das ist Profi-Werkzeug. Natürlich könnte es Zufall sein, und irgendjemand hat das Ding billig aus zweiter Hand gekauft.«
    »Und wenn nicht?«
    »Nun, diese Waffe wird gerne von Geheimdiensten benutzt. Die Israelis sind bekannt dafür. Aber nicht nur sie. Die 22er Beretta ist sehr geräuscharm, hat einen geringen Pulverausstoß und klingt deshalb im Vergleich zu anderen automatischen Waffen sehr gedämpft. Allerdings stößt sie ihre Kugel auch mit geringerer Geschwindigkeit aus, was ihre Durchschlagkraft verringert. Profis, Leute, die an dieser Waffe ausgebildet wurden, drücken deshalb mindestens zwei- oder dreimal ab. Um sicherzugehen.«
    »Auf Sebastian wurde zweimal geschossen, haben Sie gesagt.«
    »Ja, aber die beiden Schüsse kamen nicht gleich hintereinander.«
    »Und das heißt?«
    »Man glaubt, dass der erste Schuss versehentlich losging.«
    »Versehentlich?«
    »Ja. Der Mörder hat den Jungen ein ganzes Stück verfolgt. Es ist naheliegend, dass er mehrfach Gelegenheit hatte, auf ihn zu schießen. Trotzdem hat er es erst aus nächster Nähe getan. Und erst, nachdem es eine Rangelei zwischen den beiden gegeben hatte.«
    In Carstens Kopf drehte sich alles. Er hatte Mühe, Steinbergs Argumenten zu folgen.
    Der ältere Mann sprach weiter: »Wahrscheinlich hat sich während des Kampfes ein Schuss gelöst. Spätestens morgen, nach den Untersuchungen, wird man das genau wissen. Demnach wollte der Mörder Sebastian möglicherweise überhaupt nicht töten. Vielleicht wollte er nur eine Information oder irgendetwas, das der Junge bei sich trug.«
    »Das spricht wieder für einen Raubüberfall.«
    Steinberg zuckte mit den Achseln. »Aber welcher Räuber verfolgt sein Opfer über eine Distanz von mehreren Blocks? Wäre es nicht einfacher, ihn laufenzulassen und stattdessen jemand anderen zu überfallen? Außerdem müssen Sie zugeben, dass Sebastian nicht unbedingt aussah, als gäbe es bei ihm viel zu holen.«
    »Das klingt, als käme jetzt das Fazit.«
    »Kein Fazit. Nur Stichpunkte. Eine professionelle Waffe; ein Täter, der es auf eine Auskunft oder einen Gegenstand abgesehen hat, den er nur von Sebastian bekommen konnte; und ein Mord, der möglicherweise gar keiner sein sollte. Das alles zu einer plausiblen Geschichte zusammenzubasteln ist Aufgabe der Polizei. Wir können nur abwarten.«
    Carsten nickte langsam. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie etwas Neues erfahren?«
    »Sicher.«
    Er bedankte sich und wandte sich in Richtung der Absperrung. »Und noch eine Bitte: Erzählen Sie niemandem, dass ich heute Abend hier war, okay?«
    »Natürlich nicht.«
    Steinberg blickte ihm nach, als er über das Plastikband stieg, ein wehmütiges Lächeln auf den Lippen. Carsten überwand die Brettersperre am Fuß der Freitreppe und huschte die Stufen hinauf.
    Der Lichtkegel seiner Taschenlampe zuckte in hektischem Zickzack über die feuchten Wände wie ein verängstigtes Tier. Der runde Schein meißelte Pilzkulturen und Spinnweben aus der Dunkelheit. Risse und Löcher im Gemäuer schälten sich aus der Nacht, und die uralten Räume umfingen ihn mit Modergeruch und kaltem Schweigen. Schließlich fand er die Tür zum Hof, eilte hinaus und betrat einige Augenblicke später die zerfallene Kapelle.
    Die Finsternis machte ihm Angst. Der Schein der Taschenlampe belebte ganze Heerscharen gewaltiger Schlagschatten, die bei jeder Bewegung der Lampe auf und nieder zuckten wie Zielfiguren an einer Schießbude. Nur mit Widerwillen erhellte Carsten immer neue Ecken und Winkel, nervös, was er in ihnen finden würde.
    Mit wenigen Schritten durchquerte er die Kapelle und umrundete den Altar. Auf den ersten Blick schien er ein glatter Steinblock ohne Fugen und Vertiefungen zu sein. Carsten ging in die Hocke und

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