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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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unterzog die Rückseite einer genaueren Untersuchung. Erst als er mit den Fingerspitzen jeden Quadratzentimeter abgetastet hatte, entdeckte er das Mosaik am Boden, nur wenige Zentimeter vom Altar entfernt. Es war kaum größer als eine Schallplatte, ebenso rund, und stellte ein einfaches Muster aus Kreisen und Quadraten dar. Mehr noch als die Tatsache, dass es die einzige Bodenverzierung der ganzen Kapelle zu sein schien, wunderte ihn, dass seine Darstellung auch auf den zweiten Blick keine Verbindung zur christlichen Ikonografie zu enthalten schien. Mit einem Mal war er sicher, dass er den geheimen Mechanismus gefunden hatte.
    Vorsichtig berührte er das Muster und ließ seine Finger über die einzelnen Steine gleiten. Keine Reaktion. Schließlich versuchte er es mit stärkerem Druck. Augenblicklich gab der Kreis im Zentrum des Musters nach und ließ sich fingerbreit in den Boden drücken. Mit einem Knirschen öffnete sich ein rechteckiges Loch in der Wand des Altars, genau dort, wo Carsten nach Fugen gesucht hatte. Die Baumeister dieser Konstruktion hatten mit unglaublicher Sorgfalt gearbeitet.
    Vorsichtig leuchtete er mit der Lampe in die Öffnung. Sie war groß genug, um eine Hand hineinzuschieben. Erst nach wenigen Zentimetern weitete sie sich zu einem größeren Hohlraum aus, auf dessen Grund er einen fingerhohen Papierstapel erkennen konnte. Sandras Briefe waren nirgends zu sehen. Auf dem obersten Blatt stand eine gespannte Mausefalle.
    Er lächelte. Ob Sebastian die Falle tatsächlich aus Angst vor papierfressenden Nagern oder aber als Sicherung gegen neugierige Finger aufgestellt hatte, wusste er nicht. Ihm war beides zuzutrauen.
    Der Gedanke an den toten Freund machte ihn traurig und nervös zugleich. Sichernd warf er einen weiteren Blick in die stickige Dunkelheit der Kapelle, dann schob er die Lampe in die Öffnung und wartete, bis sich die Falle mit einem scharfen Schnappen um ihren Griff geschlossen hatte. Er zog sie zurück, griff dann mit der ganzen Hand hinein und packte den Papierstapel.
    Es waren fotokopierte Artikel aus Tageszeitungen und Zeitschriften, mindestens dreißig oder vierzig. Einige waren bebildert, die meisten aber waren nichts weiter als unscheinbare Texte von wechselndem Umfang. Als er den Stapel durchblätterte, blieb sein Blick hier und da an den Überschriften hängen.
    gladio in deutschland ?, stand als Dachzeile über einem voluminösen Artikel aus der Zeit. Und darunter: GEFANGEN IM SCHWEIGENETZ. Der Artikel stammte vom 23. November 1990. Ein mehrseitiger Spiegel-Text aus demselben Monat trug die Überschrift DAS BLUTIGE SCHWERT DER CIA. Der Kölner Stadt-Anzeiger vom 12. November 1990 erklärte: EXISTENZ GEHEIMER TRUPPE DER NATO SCHOCKT DIE REGIERUNG, und die Süddeutsche Zeitung sprach unheilvoll vom PHANTOM DER DUNKLEN MÄCHTE.
    Einen Moment lang war er versucht, in den einen oder anderen Artikel hineinzulesen, dann aber legte er die Kopien mit einem Kopfschütteln beiseite. Er würde sich später Gedanken machen, was Sebastian damit anfangen wollte.
    Er griff erneut in die Öffnung und tastete den gesamten Hohlraum mit den Fingern ab. Keine Spur von den Briefen. Enttäuscht zog er die Hand zurück, drückte auf das Bodenmosaik und sah zu, wie sich das Fach wieder schloss. Er hob die Kopien vom Boden und machte sich auf den Heimweg.
    Ein paar Minuten später beobachtete Tafuri auf seinen Monitoren im Westflügel, wie Carsten sich in der Eingangshalle von Steinberg verabschiedete und draußen in seinen Wagen stieg.
    Der Italiener fluchte leise.
    Was für Papiere waren das, die Worthmann bei sich trug?
    Und wo zum Teufel hatte er sie her?
    Jonas Brabach war betrunken, als er die Tür öffnete. Seine Fahne wogte hinaus auf die Gasse wie der Tintenschwall eines Oktopus. Carsten hatte Mühe, sich seinen Ekel nicht anmerken zu lassen. Der Blick des Polizisten war glasig, seine Bewegungen fahrig, und als Carsten ihm zur Begrüßung die Hand reichte, brauchte Jonas zwei Anläufe, ehe er sie fassen konnte.
    Carsten wollte sich wieder herumdrehen und gehen, als Jonas sagte: »Sie sind Sebastians Freund.« Seine Stimme zitterte kaum und hatte einen klaren Klang. »Der Mann mit den Briefen, nicht wahr?«
    Er mochte aussehen und riechen, als stehe er kurz vorm Delirium, sein Gehirn aber schien einwandfrei zu funktionieren. Carsten bejahte, und Jonas nickte zufrieden. »Kommen Sie herein«, bat er.
    Er führte ihn ins Wohnzimmer. »Ist ziemlich unordentlich hier. Ich hoffe, das stört Sie

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