Schweigenetz
nicht.«
Carsten schüttelte den Kopf. »Junggeselle?«
»Meine Frau starb vor fünf Jahren. Krebs.« Er lächelte bitter.
»Sebastian hat Ihnen die Briefe gezeigt?«, fragte Carsten, nachdem sie Platz genommen hatten. Auf dem Tisch stand eine halbleere Flasche Gin, daneben ein Glas. Der Fernseher lief.
Jonas schaltete das Gerät per Fernbedienung aus, dann nickte er. Die Bewegung wirkte wie in Zeitlupe. Vielleicht hatte er Kopfschmerzen.
»Ich habe die Briefe gesehen«, erwiderte er. »Ihre Freundin muss ein nettes Mädchen gewesen sein.«
Es war Carsten peinlich, dass Jonas den Inhalt von Sandras Schreiben kannte. »Das war sie, ja«, sagte er knapp. »Hat Sebastian die Briefe hiergelassen?«
»Nein. Möchten Sie?« Er deutete auf die Flasche.
Carsten verneinte.
»Er muss sie noch bei sich gehabt haben, als er ging«, fuhr Jonas fort.
»Ihre Kollegen haben die Briefe nicht bei ihm gefunden.«
»Vielleicht hat er sie irgendwo in den Kellern verloren.«
Auf diese Idee war Carsten vorher nicht gekommen. Eigentlich eine naheliegende Möglichkeit. »Das könnte sein«, sagte er. »Aber vielleicht brauche ich die Briefe ja gar nicht mehr. Haben Sie irgendetwas herausfinden können? Ich nehme an, Sebastian hat Ihnen gesagt, um was es geht.«
Jonas nickte. »Natürlich. Und, ja, ich habe etwas festgestellt. Sind Sie sicher, dass dieses Datum, ihr Todesdatum, das richtige ist?«
Carsten runzelte die Stirn und nickte. »Warum?«
»Sehen Sie«, sagte Jonas, beugte sich plötzlich vor, goss sich das Glas voll und trank es in einem Zug aus.
»Sehen Sie«, begann er dann erneut, »Sie sagen, Ihre Freundin sei am zwölften Juni gestorben.«
»1985, ja.«
»Ich halte das für unmöglich.«
»Dann hat sie also tatsächlich alle Briefe selbst geschrieben? Bis heute?« Hoffnung verdrängte für einen Moment die Trauer um Sebastian.
Jonas lächelte matt. »Nun, die frühen Briefe, die vom Beginn der achtziger Jahre und die aus dem Juni 1985, wurden eindeutig von ein und derselben Person geschrieben. Und das Gleiche gilt für die Schreiben aus dem Juli, August und September.« Er machte eine kurze, bedeutungsschwere Pause. »Doch dann, am 22. Oktober 1985, ändert sich die Schrift. Es bleibt eine hervorragende Kopie, aber es ist trotzdem nicht mehr dieselbe wie in den Monaten und Jahren zuvor.«
Carsten starrte ihn mit großen Augen an. »Ist das Ihr Ernst?«
»Natürlich.« Jonas' Blick verfinsterte sich. »Ich mag auf Sie wie ein Säufer wirken, aber von meinem Beruf verstehe ich etwas, glauben Sie mir.«
»Tut mir leid«, sagte Carsten. Er meinte es ernst. Trotzdem blieben seine Zweifel. »Sie glauben also, die Briefe wurden erst ab Oktober 1985 nicht mehr von Sandra selbst geschrieben? Obwohl sie bereits im Juni starb?«
Jonas hob die Schultern. Er blickte jetzt wieder versöhnlicher. »Das ist eine Möglichkeit. Es gibt noch andere. Fest steht nur, dass der Verfasser der Briefe im Oktober wechselte. Wer sie zuvor und wer danach geschrieben hat, kann ich Ihnen nicht sagen. Sind Sie denn wirklich sicher, dass die Briefe vorher von Ihrer Freundin stammten?«
Bisher hatte er keinen Grund gehabt, daran zu zweifeln. Er überlegte einen Augenblick und rief sich einige Auszüge ins Gedächtnis. Dann sagte er: »Es gibt Dinge in diesen Briefen, die nur sie wissen konnte.«
»Das hat nichts zu bedeuten. Theoretisch. Sie könnte diese Dinge irgendjemandem erzählt haben, freiwillig oder unfreiwillig.«
»Wollen Sie damit andeuten …«
»Nichts will ich«, fiel Jonas ihm ins Wort. »Es geht um Möglichkeiten, Eventualitäten. Haken Sie eine nach der anderen ab, und am Ende bleibt die Wahrheit übrig.«
Carsten fühlte, wie sich in seinem Kopf alles drehte. Allmählich kam es ihm vor, als sei er selbst der Betrunkenere von ihnen beiden. »Wahrscheinlich haben Sie recht.«
Jonas nickte wieder. »Setzen wir einmal voraus, dass Sie richtig liegen und die Briefe bis Oktober wirklich von Ihrer Sandra stammen. Welche Fragen bleiben dann offen? Zwei, meines Erachtens. Wer schrieb die folgenden Briefe? Und ist das Datum, das man Ihnen gegeben hat, wirklich das richtige?«
»Vielleicht hat man mich angelogen. Vielleicht wurde der Monat schlichtweg verwechselt. Woher, um Himmels willen, soll ich das wissen?«
Jonas goss sich ein weiteres Glas ein. »Das Datum ist kein Problem. Das kann ich übers Einwohnermeldeamt für Sie herausfinden.«
»Das wäre sehr nett.«
»Bleibt die Frage, wer den Briefkontakt fortsetzte,
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