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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ganz gleich, wann Sie wirklich starb. Irgendwelche Ideen?«
    »Keine einzige.«
    »Sie wissen, dass die DDR einen regen Geheimdienst hatte.«
    »Großer Gott, Sandra war damals gerade zwanzig.«
    »Sicher. Kein echtes Argument, aber es nimmt meiner Theorie ein wenig den Wind aus den Segeln. Vielleicht war auch nicht Sandra das Ziel, sondern Sie selbst?«
    Carsten lachte auf. Ein wenig zu schrill. »Ich? Warum, um alles in der Welt, sollte sich jemand für mich interessiert haben?«
    »Niemand?«
    »Nein.«
    »Was ist mit Ihrer Verwandtschaft? Jemand, der für die Staatssicherheit von Interesse gewesen sein könnte?«
    Er dachte nicht lange nach. »Keiner.«
    Jonas zuckte mit den Achseln. »Vielleicht sollten wir bis morgen warten. Mal sehen, was bei der Sache mit dem Todesdatum herauskommt. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen sonst noch weiterhelfen kann. Wenn Sie nachforschen wollen, tun Sie es. Besser wäre es wahrscheinlich, wenn Sie die Finger davon ließen.« Er lächelte bitter. »Und rechnen Sie nicht mit mir. Ich bin nur ein Säufer, der Schriften vergleicht.«
    Carsten überlegte, ob er etwas darauf sagen sollte. Schließlich stand er einfach auf und bedankte sich. Jonas brachte ihn zur Tür.
    »Und passen Sie auf sich auf«, rief ihm der Polizist hinterher, als er hinaustrat. »Diese Gasse ist nicht mehr sicher.«
    Er sagte es, ohne zu lächeln.
    Es war schon kurz vor Mitternacht, als er an Ninas Tür klingelte. Sie trug Leggins und ein langes T-Shirt. Carsten hatte mit ihr abgesprochen, dass er am Abend vorbeikommen würde, egal wie spät.
    »Und?«, fragte sie, als sie im Wohnzimmer auf dem Sofa saßen, jeder in einer Ecke. Nina hatte die Beine im Schneidersitz untergeschlagen und blickte ihn an. Ihr war anzusehen, dass sie geweint hatte. Trotzdem war sie ruhiger geworden.
    »Jonas hat die Briefe nicht mehr. Und in der Kapelle waren sie auch nicht.«
    »Wo sind sie dann?«
    Er zuckte mit den Schultern. »Entweder irgendwo in den Kellern, oder jemand hat sie mitgenommen.« Er sagte nicht der Mörder. Jemand klang neutraler, harmloser. Er hoffte, dass es sie weniger aufregen würde.
    Er erzählte ihr, was er von Jonas erfahren hatte. Nachdem er fertig war, wirkte sie ebenso ratlos wie er selbst.
    »Noch etwas«, sagte er dann, griff nach seiner Jacke und zog den zusammengerollten Papierstapel aus Sebastians Versteck hervor. Er reichte ihn Nina, die ihn durchblätterte.
    »Hast du eine Ahnung, warum er sich all das kopiert hat?«, fragte er.
    Sie antwortete nicht sofort und überflog erst einige Überschriften. »Hast du die gelesen?«
    Er nickte. »Die meisten drehen sich um einen geheimen Zweig der Nato, den es in allen Bündnisländern gab. Ende 1990 wurde die Geschichte in den Medien breitgetreten.«
    »Davon weiß ich nichts«, meinte sie.
    »International bezeichnete man diese Gruppe als Gladio, nach dem Kurzschwert der alten Römer. Der Begriff bürgerte sich ein, nachdem die Existenz dieser Leute als Erstes in Italien publik wurde. Andere Länder hatten dafür andere Bezeichnungen. Glaive in Belgien, Regenbogen oder Windrose in Frankreich und Haut des Roten Bockes in Griechenland.« Er lächelte. »Lyrisch, was? Hier in Deutschland hieß Gladio einfach nur Schweigenetz.«
    »Und was hatte es damit auf sich?«
    »Hinter diesen Namen verbargen sich Eliteeinheiten der Nato, die ihre Befehle direkt aus Brüssel bezogen. Kaum ein Politiker wusste davon, geschweige denn die Öffentlichkeit. Ihre Aufgabe war es, im Fall einer Invasion von Seiten des Ostblocks hinter den feindlichen Linien einen Guerillakrieg zu führen. Anschläge auf kommunistische Militärs, Sabotageakte, Aufruhr unter der Bevölkerung, alles, was dazugehört. Es gab eine ganze Reihe strenggeheimer Trainingscamps, auch in Deutschland. Dort wurden ausgewählte Kandidaten einer gesonderten Ausbildung unterzogen.« Er lehnte sich zurück. »Problematisch wurde die Situation nach Ende des Kalten Krieges. Plötzlich wurde die Existenz von Gladio bekannt und geriet in die Schlagzeilen. Niemand erfuhr die Namen der Beteiligten, doch Kosten und Ziele der Organisationen gelangten an die Öffentlichkeit. Natürlich gab es sofort Proteste: Ein Guerillatrupp gegen russische Invasoren sei mittlerweile überholt, verschlinge wertvolle Steuergelder et cetera, et cetera. Alles berechtigte Argumente. Sofort wurde die Auflösung der Gladio-Einheiten angeordnet. Die Letzten, die sich bereit erklärten, auf ihre Gruppe zu verzichten, waren die Deutschen. Bonn

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