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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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viel länger gekannt hatten. Aber sie waren nicht seine Freunde gewesen. Und er selbst? Vielleicht. Er hoffte es.
    Sie standen auf. An der Tür sagte Michaelis: »Ich habe Nina ebenfalls nach Hause geschickt. Falls Sie Gesellschaft brauchen oder der Meinung sind, dass Nina welche haben sollte, dann fahren Sie zu ihr. Ich nehme an, sie wird froh darüber sein.«
    Als Carsten in seinem Wagen saß, öffnete er als Erstes das Handschuhfach und packte die Kamera. Er riss den Film heraus, schleuderte den Apparat auf den Beifahrersitz und zog den gesamten Celluloidstreifen aus der Spule. Nachdem alles belichtet war, warf er das verhedderte Band aus dem Fenster. Erst dann konnte er den Schlüssel drehen und losfahren.
    Minuten später parkte er direkt vor Ninas Haustür. Klingelte. Keine Antwort. Er drückte die Tür auf und stieg die Treppen hinauf. An ihrer Wohnungstür schellte er erneut. Als sich noch immer nichts rührte, klopfte er vorsichtig gegen das Holz und rief leise ihren Namen. »Ich bin's, Carsten«, fügte er nach einigen Sekunden hinzu.
    Er hörte ein Rascheln, dann ging die Tür auf. Ninas Gesicht war rot und verheult, ihre Augen geschwollen. Ohne auf eine Einladung zu warten, trat er ein und nahm sie in die Arme.
    Sie weinten, lange und ausgiebig, doch nach ein paar Minuten ertappte Carsten sich dabei, wie er plötzlich an etwas anderes dachte. Nicht an Sebastian. Auch nicht an Nina.
    Er dachte an die Briefe.
    Er wartete bis neun Uhr, ehe er zur Redaktion fuhr und den Wagen am Brunnen abstellte. Hinter den Fenstern brannte kein Licht. Die anderen waren längst zu Hause.
    Als er die Eingangshalle betrat und an der Rezeption vorbeikam, schenkte Steinberg ihm ein trauriges Lächeln. »Eine Tragödie ist das«, meinte der alte Wachmann. »Wie alt war er? Dreißig?«
    »Siebenundzwanzig.« Carsten hatte sich die ganzen letzten Stunden mit Sebastian beschäftigt. In seinem Kopf schien sich alles, was mit ihm zu tun hatte, hinter einem diffusen Nebel abzuspielen. Sein Gehirn hatte auf Verdrängung geschaltet.
    »Sie kannten ihn erst, seit Sie hier sind, nicht wahr?«, fragte Steinberg.
    Carsten nickte. »Ein wenig über eine Woche.«
    »Ich erinnere mich noch an ihn, als er ein Kind war.«
    »Sie kannten sich bereits so lange?«
    »O ja. Ich war früher Polizist, müssen Sie wissen. Wir alle kannten Sebastian Korall. Er war ein ziemliches Donnerwetter.«
    »Warum haben Sie bei der Polizei aufgehört?«
    Steinberg zuckte mit den Schultern. »Schlechte Bezahlung, schlechtes Ansehen. Die Wachdienste zahlen besser. Auch wenn sie es eher auf diese jungen Kerle abgesehen haben, diese Muskel- und Kampfsport-Typen.«
    »Haben Sie eine Ahnung, was mit Sebastian passiert ist?«
    Zu seiner Überraschung nickte der ältere Mann. »Er war zu Besuch bei einem Freund, auch ein Polizist. Jonas Brabach. Die beiden haben getrunken, ziemlich viel, sagte man mir.«
    »Wer sagt das?«
    »Ehemalige Kollegen. Ich habe mich heute Nachmittag ein wenig umgehört. Ein paar Anrufe gemacht. Ich mochte den Jungen, wissen Sie.«
    Carsten nickte. »Hat man etwas bei ihm gefunden? Ein paar Briefe?«
    »Nicht dass ich wüsste. Sollte man?«
    Carsten hob die Schultern. »Vielleicht.«
    »Auf jeden Fall ist er am Abend ziemlich betrunken dort fortgegangen«, fuhr der Wachmann fort. »Auf der Straße muss ihn dieser Scheißkerl dann abgefangen haben. Beide haben eine Menge Spuren hinterlassen. Es hat eine Verfolgungsjagd durch die Keller der umliegenden Häuser gegeben. Der Junge kannte sich dort aus wie in seiner Westentasche, das können Sie mir glauben. Hat uns früher dort unten oft abgehängt. Der andere hat schließlich auf ihn geschossen, aus nächster Nähe. Bauchschuss, sehr schmerzhaft. Und in den meisten Fällen tödlich. Offenbar wollte er sich noch die Treppe hinauf ins Freie schleppen, aber so weit ist er nicht mehr gekommen. Dort hat ihm der Kerl nochmal in den Kopf geschossen.«
    Carsten atmete tief durch. »Irgendeine Spur?«
    »Nein, nicht wirklich. Dort unten treiben sich eine Menge Leute herum. Die haben ein paar Haare gefunden, aber die können von Gott weiß wem stammen. Es hat offenbar eine kurze Rangelei gegeben, auf Sebastians Kleidung haben sie Textilfasern gefunden. Aber die werden ihnen nicht weiterhelfen; zumindest nicht, wenn es ein Profi war.«
    »Wie kommen Sie darauf?« Carsten war ehrlich überrascht. »Ich denke, es war ein Überfall?«
    Steinberg nickte wieder und stützte sich mit beiden Händen auf den Rand der

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