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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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vergessen hatte. Ihre Stimme klang fröhlich, mit einem leichten Unterton von Besorgnis.
    »Sie hören sich nicht an, als ob es Ihnen dort drüben besonders gutgeht«, stellte sie fest.
    »Oh, das ist der Stress«, log er und ahnte ihre nächste Frage bereits voraus.
    »Sagten Sie nicht, dass es in Lokalredaktionen ein wenig ruhiger zugeht?«
    Er zögerte. Vielleicht sollte er ihr doch die Wahrheit sagen. »Glauben Sie mir, ich habe eine Menge um die Ohren. Ansonsten ist alles in Ordnung.« Ein Kompromiss.
    »Was ist mit Sandra? Gibt es irgendetwas Neues?«
    »Nein, nichts. Es bleibt dabei. Sie ist tot.« Drei Antworten, dreimal nur die halbe Wahrheit. Trefferquote hundert Prozent. Er schämte sich. »Elisabeth, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Sie später zurückrufe? Ich erwarte einen dringenden Anruf und …«
    »Sicher«, unterbrach sie ihn. »Ich habe viel Zeit, das wissen Sie doch.« Jetzt klang sie ein wenig traurig, was ihn fast dazu gebracht hätte, die ganze Geschichte zu erzählen. Aber er erinnerte sich an das, was Nina gesagt hatte; darüber, dass Michaelis möglicherweise Sebastians Telefongespräche mit angehört hatte. Er durfte kein Risiko eingehen. Und er wollte sie auf keinen Fall in die Sache hineinziehen.
    »Danke, Elisabeth«, sagte er. Es war der erste Satz, der wirklich ehrlich war. Er wusste nicht einmal genau, wofür er sich bedankte. Vielleicht einfach nur dafür, dass sie sich Sorgen um ihn machte.
    »Bis später, mein Junge.«
    »Bis später.« Er legte auf, atmete tief durch und nahm dann den Hörer erneut zur Hand. Langsam wählte er die Nummer der Polizei und ließ sich mit Jonas Brabach verbinden. Was er ihm zu sagen hatte, durfte Michaelis ruhig mitanhören; falls er es überhaupt tat und es für ihn von Interesse war.
    »Sie hatten recht«, sagte der Schriftsachverständige, als die Verbindung endlich stand. Er klang völlig klar, ohne die Spur eines Alkoholkaters. »Das Todesdatum Ihrer Freundin ist laut Einwohnermeldeamt der 12. Juni 1985.«
    Carsten drückte die Muschel fester ans Ohr. »Die Frage ist wahrscheinlich überflüssig. Trotzdem: Sind Sie ganz sicher?«
    »Sie können mir vertrauen. Sandra Kirchhoff starb im Juni 1985, eine Abweichung ist völlig ausgeschlossen. Vor allem nicht um mehrere Monate, bis Oktober.«
    »Und was bedeutet das?«
    »Das weiß ich nicht. Aber ich bleibe hundertprozentig bei dem, was ich Ihnen schon gestern Abend gesagt habe. Die Schrift bleibt bis Oktober dieselbe und ändert sich erst in dem Brief vom zweiundzwanzigsten.«
    Carsten seufzte. »Haben Sie vielen Dank«, sagte er. »Sie haben mir sehr geholfen.«
    »Ich habe Sie eher verwirrt, glaube ich.«
    »Trotzdem danke.«
    »Wenn Sie mal wieder ein Problem mit irgendwelchen Schriften haben, kommen Sie vorbei. Und bringen Sie mehr Durst mit als beim letzten Mal.«
    Carsten lächelte, verabschiedete sich und legte auf.
    Jonas' Bestätigung des Datums überraschte ihn nicht; er hatte damit gerechnet. Blieb die Frage, was die Abweichung zu bedeuten hatte. Und wer zum Teufel die Briefe ab dem 22. Oktober geschrieben hatte.
    Er wechselte einen kurzen Blick mit Nina. Sie hatte sich gefangen und spielte die Rolle der ahnungslosen Sekretärin großartig. Niemand würde einen Verdacht schöpfen. Er hoffte, dass das auch für den Redaktionsleiter galt.
    Er stand auf und ging zu Michaelis ins Büro. Er erklärte ihm, er wolle versuchen, noch einmal mit Viktor, dem Stasi-Maler, zu sprechen, und werde erst in einer bis zwei Stunden zurück sein. Ob das in Ordnung sei, fragte er. Sicher, sagte Michaelis. Carsten fand, dass er müde aussah. Als ob er in der vergangenen Nacht nicht geschlafen hätte.
    Er fuhr tatsächlich zu Viktor, wenn auch aus einem anderen Grund. Diesmal fand er den Weg zur verfallenen Villa des Malers auf Anhieb. Wie bei seinem ersten Besuch waren auch heute alle Vorhänge zugezogen. Er stieg die Stufen zum Eingang hinauf und betätigte den Türklopfer.
    Es dauerte eine Weile, bis aus der Halle Schritte nach draußen drangen. Dann öffnete sich die Tür, und Viktor stand vor ihm. Der kleine alte Mann musterte ihn mit listigem Blick.
    »Herr Worthmann, ich grüße Sie.« Viktor reichte ihm die Hand und bat ihn herein. »Sie möchten Ihr Interview fortsetzen?«, fragte er.
    Carsten schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Nicht heute. Ich habe eine Bitte.«
    »Das habe ich mir gedacht.«
    »Wirklich?«
    Der Alte lachte. »Bitten Sie, junger Mann. Was kann ich für Sie tun?

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