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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Brauchen Sie ein Bild, ein Portrait? Die Kritik eines Kunstkenners? Bitten Sie mich nur.«
    »Kein Bild«, sagte Carsten. »Nur ein Telefon.«
    Es war ein Risiko, natürlich. Er musste sichergehen, dass niemand erfuhr, dass er telefonierte. In der Redaktion war das unmöglich, seine und Ninas Wohnungen hatten keine Anschlüsse, und in einer Zelle wäre er schon von weitem zu sehen gewesen. Auch Gaststätten schieden aus. Zu leicht konnte man ihn dort unbemerkt beobachten. Möglicherweise litt er unter Paranoia; ein Fall für den Psychiater. Trotzdem würde er ab heute achtgeben. Er wollte nicht enden wie Sebastian.
    »Ein Telefon«, stellte Viktor sachlich fest. Er wirkte nicht überrascht. »Darf ich fragen, weshalb Sie deshalb gerade zu mir kommen?«
    Diese Frage hatte Carsten auch sich selbst gestellt. Ein offizieller Termin für die Zeitung war die einzige Möglichkeit, die Redaktion zu verlassen, ohne das Misstrauen des Großen Unbekannten zu erregen – falls es ihn gab. Und warum gerade Viktor? Intuition, vielleicht. Möglicherweise auch einfach die Hoffnung, dem kauzigen Einsiedler am ehesten vertrauen zu können. Er betete darum, dass er mit dieser Entscheidung keinen Fehler machte.
    Offenbar war Viktor nicht gewillt, noch länger auf eine Antwort zu warten. Stattdessen sagte er: »Erklären Sie mir nichts, wenn Sie nicht wollen. Und was das Telefonieren angeht: Natürlich dürfen Sie.«
    Carsten atmete auf. »Vielen Dank«, sagte er unbeholfen.
    Der alte Mann führte ihn nicht in den Saal, in dem sie beim ersten Mal gesessen hatten. Sie betraten stattdessen einen großen Raum, verziert mit aufwändigen Malereien unter der hohen Decke. An den Wänden hingen Bilder, die offenbar von Viktor selbst stammten. In regelmäßigen Abständen ragten zwischen ihnen Lampen in Form altmodischer Kerzenleuchter aus dem Mauerwerk. Durch die geschlossenen Vorhänge fiel nicht ein Hauch von Tageslicht.
    Frei in der Mitte des Raumes stand das Telefon auf einer kleinen Kommode. Daneben befand sich ein einsamer Sessel mit rotem Samtbezug und goldenen Fransen. Es gab kein weiteres Möbelstück.
    Viktor schien seinen Blick zu bemerken. »Glauben Sie mir«, sagte er. »Würden Sie wie ich allein in so einem Bau hausen, kämen sie auf ähnliche Ideen. Für jedes Stück einen eigenen Raum. Die Lauferei hält jung.«
    Carsten nickte höflich und durchquerte den weitläufigen Raum bis zum Telefon. Viktor blieb an der Tür zurück. »Wenn Sie noch einen Wunsch haben, rufen Sie mich. Ich bin im Atelier.«
    Carsten bedankte sich. Erst als der Maler verschwunden war, fiel ihm ein, dass er keine Ahnung hatte, in welchem Winkel dieses labyrinthischen Gemäuers das Atelier versteckt sein mochte. Er würde sich später Gedanken darüber machen. Nach dem Anruf.
    Er zog einen Zettel aus seiner Hosentasche und faltete ihn auseinander. Das Telefon war ein uralter Apparat mit Wählscheibe aus Metall. Es schien ewig zu dauern, bis alle Ziffern der Telefonnummer durchgelaufen waren. Schließlich hörte er das Rufzeichen. Nach dem dritten Klingeln wurde am anderen Ende der Hörer abgenommen.
    »Deutsche Presse-Agentur, Leipzig«, meldete sich eine Frauenstimme.
    »Worthmann. Ich hätte gerne die Dame gesprochen, die folgenden Artikel geschrieben hat.« Er nannte Datum, Titel und Nummer des Textes.
    »Einen Augenblick«, bat die Stimme. »Ich verbinde mit der Redaktion.«
    Die Prozedur wiederholte sich, bis schließlich eine junge Frau sagte: »Apparat Gregor.«
    Carsten grüßte und nannte zum dritten Mal die Daten des Artikels.
    Die Frau schien sich zu erinnern. »Oh, ja, der stammt von Frau Gregor. Simone Gregor.«
    »Könnte ich sie bitte sprechen?«, bat Carsten.
    »Tut mir leid, Frau Gregor ist nicht in der Redaktion.«
    »Wann kann ich sie wieder erreichen?«
    »Nun«, sagte die Stimme zögernd, »das ist schwierig. Ich weiß nicht, wann sie wieder hier sein wird.«
    »Heute noch?«
    »Nein, heute nicht mehr. Sehen Sie, es ist wirklich schwierig im Moment. Vielleicht versuchen Sie es noch einmal in zwei Wochen.«
    »Zwei Wochen? Ist sie krank? Oder im Urlaub?«
    »Hören Sie bitte, ich weiß nicht, ob ich darüber am Telefon so einfach sprechen darf …«
    »Ich bin ein Freund von Simone«, sagte Carsten mit Nachdruck. Er hoffte, dass seine Stimme nicht so zittrig klang, wie er sich fühlte. »Es ist wirklich wichtig, dass Sie mir sagen, was mit ihr los ist.«
    Zögern. Dann sagte die junge Frau: »Sie hatte einen Unfall. Vor ein paar

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